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ich bin die nacht nicht da geblieben. um halb zehn hab ich elias genommen und mich vom freund in in die wohnung fahren lassen, das finde ich inzwischen am schlimmsten, ich hab ihn allein gelassen. mein schwester sagt, hunde würden wie alle tiere lieber allein schwach und verletzlich sein, die tierärztin formuliert es ähnlich: „solange sie da sind, reisst er sich zusammen, aber er braucht ruhe.“ wir schlafen nicht gut, morgends sagt jemand am telefon: es ist immer noch kritisch, wir haben ihm blut abgenommen, rufen sie später wieder an. später ist irgendeine visite oder so, eine stimme sagt, man wird mich zurückrufen. ein halbe stunde später ruft mich die ärztin an, die jack gestern abend aufgenommen hatte: jack ist heute nacht gestorben, sagt sie, wir wollten ihn grade operieren, er hatte sich die lunge verletzt und es gab diffuse blutungen auf dem röntgenbild, sie wollten luft rausholen oder blut oder so etwas, oder luft reinlassen, ich habe das nicht verstanden, und er sei kurz vor dem eingriff gestorben, sie sagt: als hätte gott ihn vor der op zu sich geholt, um halb eins in der nacht auf den montag. mir laufen die tränen los, noch während sie spricht, elias sieht mich dabei an und beginnt sofort zu weinen: er ist tot! er ist tot! schreit er. mein wunderbarer hund ist tot.

er war am tag zuvor mit einem riesigen und vollkommen überraschenden sprung über eine dicke mauer in den graben um die nürnberger stadtmauer gesprungen, er ist dabei 12 meter tief auf einen asphaltweg gestürzt, wir standen oben, elias schrie, jack ist direkt vor seinen augen gesprungen, der freund schrie, wir dachten erst, einer der zwillinge sei in die tiefe gestürzt und ich war schon voll im katastrophenmodus, der die sekunden zieht und dehnt, ich stand vielleicht vier meter weg von der mauer und meinen söhnen, und musste meinen kopf erst hindrehen, es dauerte endlose sekundenbruchteile, die kinder alle zu orten, alle sicher, es war der hund, und dann kamen wir nicht runter zu ihm, wir mussten erst umständlich bis zum ende der stadtmauer laufen, jack lief dabei unten herum, ganz langsam, aber auf allen vier beinen, schwanz eingezogen, kopf gesenkt, leicht hinkend, aber er lief, und ich dachte irgendwie, es wäre aus einem absurden wunder heraus gut gegangen. der freund hat sein auto geholt, seine frau hat die zwillis mitgenommen, wir wurden mit jack in eine tierklinik gefahren, nur meinen großen sohn habe ich noch mitgenommen, weil er die tiefste bindung zu jack hat und alles unmittelbar miterlebt hat. ich habe meinen hund aus dem graben zum auto getragen und vom auto in den fahrstuhl, er war zu schwer mit seinen 30 kilogramm, ich muss mehr sport machen, dachte ich nach ein paar metern. als wir auf siggi und sein auto warteten, haben wir uns auf den bürgersteig um jack herum gesetzt, er stand da, benommen und verlangsamt, mit gesenktem kopf, zitternd, er hatte nur einen winzigen blutfleck am zahnfleisch und seine zunge wurde ein bisschen bläulich, aber er sah relativ unversehrt aus, nein, falsches wort, unzerbrochen.

nach dem anruf mit der todesnachricht am morgen hat mich der nürnberger freund, ein wunderbarer freund übrigends, der aber auch alles richtig gemacht hat in dieser fürchterlichen traurigen geschichte, und der uns mit seiner frau durch den ganzen schrecklichen tag gebracht hat, mich und die kinder, er hat uns alle in die klinik gebracht, weil ich jack nochmal sehen wollte, aber nicht auto fahren konnte. wie in einer menschenklinik haben sie uns in einen kleinen raum gebracht, und dieselbe ärztin vom abend und der nacht zuvor brachte meinen hund herein, auf so einem wagen, mit halboffenen stumpfen augen. er sah sehr groß aus, als er tot war, ich habe seine pfoten bewegt, es ging noch, und überlegt, ob ich versuchen sollte, seine augen zu schließen, wie das die amis immer in den filmen machen, dabei immer noch der impuls: ich nehm ihn jetzt mit, und wir kriegen das wieder hin, elias weinte wie wir alle und sagte immer: kann man ihn nicht wiederbeleben, bitte mama, er soll wieder leben, und ich immer: er ist tot, jack ist tot, weil mir sonst nichts zu sagen einfiel.

jetzt, ein paar tage später, habe ich ihn vollkommen verloren, nur eine art körperschatten von ihm hängt noch im alltag, ist noch da, ich erwarte seine schritte, sein bellen, den klugen und jungen blick und das vertraute gewicht am fussende meines bettes, seine lange schöne nase, seine spielaufforderungen, ich habe noch den jack-muss-raus-impuls und will nach seinem trinkwasser sehen, die gewohnheiten sind geistlos und zählebig, aber seine seele ist vollkommen weg, ganz weit weg, total verloren, und ich ertappe mich beim nachdenken darüber, wo um alles in der welt die wunderbare seele meines hundes jetzt ist, wo ich doch nichts mehr davon spüre, er war so präsent in meinem leben. und ich hätte sie gern wieder, er fehlt mir sehr. elias in den ersten tagen immer: er soll wiederkommen, mama, ist er wirklich tot? er soll wiederkommen!

kurzerhand beschlossen, dem sommer doch noch das herz zu schenken und mit den monstern nach italien zu fahren, in die hitze, die mich immer wieder, jedes jahr, nach hause bringt. die bilder, die goncourt von paris heimgebracht hat! deswegen. jedes jahr zerfallen meine alten chiffren ein bisschen mehr, die berliner zeit ist inzwischen länger als die in mailand, die leerstellen gefüllt mit einer krümeligen sentimentalität (die goncourt glaub‘ ich nicht hat, oder wenn, dann nur in der beziehung zur tiefenschärfe seiner bilder, der gleichberechtigung von geschichte und geschichten, in der hingabe, aber das ist ja was anderes). aber die haben meine freunde dort auch, man kann sie irgendwann nicht mehr unterscheiden von diesem blick, mit dem man 20jährige anschaut, zurückhaltend, freundlich, fassungslos.

auf das unkomplizierte, das fröhliche ja oder nein, auf diese roten modegetränke, deren namen ich immer vergesse, auf die alten und auf uns, die reisenden. manchmal glaube ich, das altern ist ein angemessener preis für diese strange spezielle schönheit.

c.t.

and the seasons they go round and round

immer das gefährdete.

im sommer die klaren momente, kurze folgenlose gewissheiten, sagen wir mal über die welt und die dinge, neulich tomi ungerer in einem biopic: die gegenwart ist eine dünne, wie sagte er, nicht flatternd, aber sowas in der art, zitternd vielleicht, eine zitternde membran zwischen der vergangenheit und der zukunft, das widerstrebt mir, es ist doch die ganze vergangenheit immer dabei, ich bin eine marionette, die an 1000 feinen fäden hängt.

die momente, an denen man plötzlich loskommt und nichts mehr weiß. mögen sie bleiben.

summertime.

„sag mal, auf was für einem konzert warst du mit elias neulich? ach prince! david garrett war ja auch da, du das war toll, mit orchester, der spielt ja so großartig, das glaubst du gar nicht, das hab ich gesehen zufällig. das ist ja ein toller musiker. und mit prince, damals als die shermans noch da gewohnt haben, also bevor die nach amerika zurückgezogen sind, die waren bei den baptisten, und die baptisten hatten so einen gebetsraum, einen recreationroom, im – wie heißt das noch, was war noch die großmutter, wart mal, im diakonissenhaus war das. weil die kirche, das ist alles privat in amerika, und wenn die kirchenmitglieder geburtstag haben, werden die persönlich aufgerufen, und wenn jemand hilfe braucht, dann wird dem geholfen, und da machen immer alle mit. die shermans hatten mich mitgenommen an dem tag, und prince kam da hin, der war wohl grad in hamburg, und da wurde mir der vorgestellt, ich hab noch gesagt, was für ein prinz? du, der war nett. die baptisten haben immer einen chor und jim war da natürlich auch drin, und der prince hat da bei dem gottesdienst auch mitgesungen.“

die tante ursel, eine sehr energiereiche lieblingstante kurz vor ihrem 75., erzählt aus dem fernen jahr 1998.

neulich auf einem wochenendtrip mit mehreren familien, oder bei einem essen mit freunden: wie manche männer, wenn sie erfolg haben, also geld und macht und kinder, wie sie dann wut oder genervtheit oder missfallen an irgendwas innerfamilärem öffentlich austragen, als hätten sie nun ein recht darauf. vielleicht der einzige hinweis auf ihre selbsteinschätzung, sie dürfen das, wir müssen das anhören, und normalerweise greift dann auch niemand ein, obwohl kinder oder ehefrauen blossgestellt werden. ob sie das auch tun, wenn der rest der gruppe gleichrangig ist?

prince 2010

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block VI

ganz oben höre vom kind ich das leise ah!, als wir den ersten blick ins rund der waldbühne werfen können. wir sitzen oben, block VI, eine stunde lang, essen, trinken, elias fragt mich, ob die musik denn noch lauter wird, wenn der prince kommt. wir treffen nachbarn und sehen noch ein paar andere kinder, aber der rest des publikums ist eher aus meiner altersgruppe. ich bin total zufrieden, kind ist überwältigt sagt schon cool, die abendsonne ist immer noch heiß, es sind über 30 grad. dann endlich sieht man p aus dem wald kommen, weißer anzug, nach seiner schlagzeugerin und einem herrn, der mundharmonika spielt, der funke fliegt sofort, nach ein paar sekunden hat er uns am haken.

nach anderthalb songs stehen alle, mein kind zuerst (vorher: mama, können wir nicht zu den ärzten gehen oder so, die sind doch auch alt) plötzlich sagt prince, wir sollten näher kommen, und wie an fäden gezogen stehen die leute auf, klettern aus dem abschnitt raus und laufen die treppen runter, mein sohn flitzt an mir vorbei, komm mama, er ist wendig und schnell, ich laufe ihm einfach hinterher, nach einer minute stehe ich mit ihm
10 meter von der bühne entfernt, im staub, neben einem mann, der uhr und love-armband von cartier trägt. ein haufen publikum ist bis auf die bühne gelaufen und tanzt direkt neben den künstlern ein paar stücke mit, bis sie wieder heruntergebeten werden. prince spielt lauter alte sachen, aber so mit improvisationen, rhythmus und zitaten durchsetzt, so verspielt, leicht und treibend, dass man sie nicht immer gleich erkennt. er ist vollkommen alterslos.

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freak out!

die waldbühne ist voll, nur an den seiten gibt es leere stellen, die stimmung ausgelassen und fröhlich. elias springt die ganze zeit mit, manchmal nur ein paar meter vom bühnenrand entfernt, die leute neben ihm wollen ihn auf die schultern nehmen und ganz nach vorn bringen, aber er will lieber nicht. wenn es ihm zu laut wird, geht er für eine weile plastikbecher suchen und kriegt so zwischendrin auch noch 25euro pfandgeld zusammen, einen pro becher. er bemerkt die ganzen paradiesvögel schon, die vielleicht 50zigjährige in enger ledermontur, mit ketten überall, den mann in jesusgewändern mit tätowierter brust, die bedröhnt herumschwankenden, die jungen türken in lila mit gold, die wunderschönen schwulen, bei denen man sich wünscht, dass die haare nicht gefärbt sind, den beamtentyp mit gelbem jacket und großen goldenen broschen auf den schultern und auf dem bauch. purple rain als zugabe, man erkennt die harmonics in den ersten takten, aber er lässt sich noch 10 minuten zeit, bis er mit dem text und dem thema rausrückt. elias ist abwechselnd total hingerissen und total müde, nach der zweiten zugabe werde ich leider leider vom kind vom platz gezogen. auf dem weg zur s-bahn hören wir die nächsten zugaben, und da ist das konzert schon 3 stunden alt.

ich freue mich total, dass ich für elias den masstab so hoch setzen konnte. er weiß das aber noch nicht. das war sein allererstes konzert.