strassenecke

„was schaut ihr denn da, kinder?“
„eigentlich etwas relativ dummes.“
der fortschritt ist die akzeptanz; ich gehe aus und bin nicht da, um vorzulesen, noch was zu wissen, lichtaus durchzusetzen, alle wissen, dass sie heimlich tv gucken werden, weil mir die energie fehlt, um die fernbedienung ins auto, den schlüssel in den briefkasten zu packen, oder in den tiefkühler, oder unter die blumenkästen. man muss es klar sagen: der kulturhunger der mutter ermöglicht den kindern kulturlosigkeit, auf perfekte weise, weil sie es im geheimen tun können. ich habe ihnen gesagt, wenn sie erben wollten, müssen sie vorher alle meine bücher lesen. „okay“ sagt gregor.

strassenecke„: die ersten seiten erinnern mich an die, die ich war, als ich jahnn gelesen habe, ich finde das sofort wieder in mir, es ist alles da („Alle Menschen denken einmal im Morgengrau zwischen Schlaf und und Wachen oder zufällig in einer dünnen Stunde bei einem Glas Absinth oder als sie sich entkleiden, das Hemd von der Haut abheben oder als die Strassenbahn in den Schienen knirscht, sie denken an sich wie der Geist an sie gedacht, als er sie bildete. Durch sie hindurch und in sich hinein. Und die Gedanken sind dolchartige Eisen […]“ und so weiter, dann übermannt ihn der expressionismus, bin hin zum „fettes spratzendes Höllenfeuer“ und solche dinge, dieses hemmungslose sich-ernst-nehmen, das man heute in literarischen texten nur noch mit dem autoren-ich und seinen wahrnehmungen tut und nicht mehr mit der gesamten welt.)

das stück sei nicht erzählt worden, lese ich in der kritik einer aufführung von 1994, das jugendtheater (wusste ich nicht vorher, ich hab „P14“ nicht wahrgenommen in der ankündigung, sie hätten aber auch einfach „jugendtheater“ hinschreiben können, die hanseln) hier tut das auch überhaupt nicht, leider, einigen schauspielern hätte ich ein bisschen mehr schauspiel schon zugetraut. der abend war interessant zumindest, volksbühne dritter stock, ein vollkommen leerer raum (bühnenbild bert neumann, der hatte wohl keine zeit) mit je drei stuhlreihen an den schmalen enden, die kids sind großartig textsicher, laufen herum und haben die beiden verwendeten darstellerischen möglichkeiten spielend im griff: monotones bisschen zu schnelles vortragen ohne körperbeteiligung und hemmungsloses brüllen, beides fordert zuschauer mit extrem guten ohren und zenmässiger konzentrationsfähigkeit, weil der text so unzeitgemäß dicht und gewaltig ist, auch die handungsverläufe sind sehr vielfädrig. am ende öffnen sie die 4 fenster des raumes, zum theatervorplatz hin, und machen das licht aus, es leuchten nur noch die lampen von draussen, auch die gehen irgendwann aus, niemand spricht noch, man sitzt im dunkeln, friert und hat keine ahnung, ob sie durch sind mit dem text. das publikum sass am ende sehr gutwillig minutenlang herum, bevor jemand mit dem beifall begonnen hat. ich mochte das, nur das restlicht von der stadt im raum, theater und stadt beide dabei, plus das magische eines unbespielten theaterraumes. wie ein schlafzimmer, das stück schläft wieder, denkt man so ein bisschen verträumt und guckt aus dem fenster in den berliner nachthimmel.

ich konnte mich trotz guter absichten (hh jahnn!) nicht immer auf den text konzentrieren und habe nicht verstanden, warum die regisseurin das so inszeniert hat. oder haben die kids das alleine entschieden? ein paar sätze dazu auf dem programmzettel wären hilfreich gewesen. ich wollte nicht rausgehen bei so jungen leuten, einer war noch vorm stimmbruch, aber versucht war ich schon. die ganze jahnnsche sprachgewalt und meinungsdichte wurde wegmonologisiert – oder eben niedergebrüllt.

Boh„, sagt der italiener dazu. schnell nach hause radeln, hund lüften, die kinder ins bett schicken, „mama, wie spät ist es denn jetzt genau?“ „23:06“ „okay, dann schlaf ich jetzt.“

einfach weitergehen heute nacht, die musik suchen gehen, den weg nach spandau, immer weiter, hier ein bier, ein paar sätze unterwegs, bis es stiller wird und alles gesagt ist und die bürgersteige leer werden.

(auf dem heimweg in einer kneipe versackt, ganz alleine, die mädels verabschiedet, an meiner haustür vorbei einfach weitergelaufen in die nächste eckkneipengegend, kinder zuhause, hund dabei, rum getrunken, eine kippe geschnorrt, leute geguckt, sie sahen unaufgeregt aus, die frauen geschminkt, die männer mit breitem oberkörper, linoleumboden in brauntönen und internet für 1,50 pro stunde. es ist noch platz an der theke, noch einen rum? die alarmglocken klingeln leise, aber ich lauf weiter aus dem herzschlag des viertels heraus, in die obi- und strauss-innovation-gegend, wo die kneipen neonröhren im fenster haben. sich mal richtig besaufen, ohne drama, aus albernen gründen, das wegräumen von gegenargumenten, alle langweilig, aufstehn, wach sein morgen, bei der guten laune der kinder mithalten können, den vormittag nutzen, und du hast auch eigentlich gar kein trinkerherz. storkower strasse, halb zwei, alles zu. ich ruf ne taxe. aber ich hätte, ich hätte auch bis nach weissensee weitermachen können.)

logistik. nächste woche würd ich zweimal theater wollen, einmal shakespeare-wilson-georgette, sollte man schon hingehen eigentlich, und einmal den ollen herrn jahnn in der volksbühne, der findet alle paar jahre eine seele, die ihn inszeniert, silvia rieger hat sogar den pastor ephraim magnus schon auf die bühne gebracht, ein stück mit liebe, inszest, religion und noch irgendwas, ja: und kannibalismus, übel expressionistisch. donnerstag und freitag. donnerstag hätt ich auch noch sport, aber ich habe nun so lange, jahrelang, keinen sport gemacht, da wird doch einmal mehr … die jungs wären dann zweimal hintereinander allein und werden theater hassen fernsehsüchtige monsterkinder, wenn sie groß sind.

samstag ist dann alles gut, da geh ich auf einen 50sten, bei einer fastbesten freundin, das ist kein wirkliches ausgehen, das ist eher ein hingehen. und am nächsten tag ist keine schule, ich kann vielleicht ein video aussuchen, äh mit tieren?

schweres leben in der großstadt.

ich könnte auch donnerstag zum sport und müsste mich dann am freitag nur zwischen den theatersachen entscheiden, die kommen da beide. den wilson streichen, der kommt bestimmt nochmal. der jahnn, der letzte ist 18 jahre her, das kann dauern. lieber wär mir die medea gewesen, wie sie ruft: „schlaf ist an dir in meiner gegenwart“, und jason wendet sich ab, der autor ist eh total vergessen, warum dann diese kleinen schlecht spielbaren sachen machen? es muss eine junge regisseurin sein, die ihn inszeniert. gibt es noch diese jugendlichen jahnn-phasen? sollte vielleicht doch lieber in den wilson gehen. andrerseits hängt das jahnn-ticket schon am kühlschrank.

die frau hat sehr weiße haut, in regelmässige halbfingerbreite fältchen gelegt, blasse blaue augen, also nicht verblasst, sie ist ausschließlich in zartblau und hellrosa gekleidet, das weiße, dünne haar in einem kleinmädchenpony über den augenbrauen abgeschnitten, am hinterkopf ganz eng zu einem pferdeschwänzchen gebunden, der blick vollkommen leer. jedes detail an ihr unterstreicht eine von weit weg kommende und intrazelluläre bösartigkeit, sie hat auch als 12jährige so geguckt, mit schüppe, leicht abwesend, nur ungern herauskommend aus ihrer inneren sicherheit, das die welt im unrecht ist, war, und sein wird.

lieder singen

Quattro cani per strada
e la strada è già piazza
e la sera è già notte.
Se ci fosse la luna,
se ci fosse la luna si potrebbe cantare.

und wenn schon. der war gut damals. ich sass mit zwanzig auf einem holzboden in deutschland in irgendeiner mehrzweckhalle und dieser liedermacher sang, er hat eine richtige singstimme, nicht wie die anderen, die eher nur kopf und absichten hatten, seine lieder hatten herz und sehr viel musik. ich sass da und fand ihn gut, habe platten gekauft und die songs mit zurückgenommen nach italien, wo ich mit freunden einen sommer lang strassenmusik gemacht habe, wir haben die ganzen cantautori gesungen, lucio dalla und de gregori auch natürlich, de andrè, den alten, vor „creuza de mar“. aber auch gianni morandi und guccini und pfm (die habe ich seit diesen frühen achtzigern bestimmt aus gründen nicht mehr gehört, es gibt sie immer noch, ihre letzten drei platten heißen ulisse, serendipity und dracula, denen kann jetzt auch nichts mehr passieren) und wir spielten die klassiker aus den usa. ich wusste immer nur die ersten paar strophen, aber meine stimme war in ordnung. wir fuhren in einem grünen alten käfer herum und ich war ein bisschen verliebt in den gitarristen, bassist war keiner mit, ich habe noch ein bild von ihm und diesem wagen, aber seinen namen hab ich vergessen leider, paolo vielleicht? paolo war es. wir schliefen in den dünen, wo der appenin flacher wird und die maremma anfängt, gibts da dünen? la spezia und drunter. in einem zelt, es gab wein und pizza, verdient haben wir nicht so viel, aber es ging natürlich sowieso nicht ums geld. es ging um nichts besonderes, um das nächste lied, darum, den wein kühl zu halten, um einen blick, den sommer eben.

(kurzgespräch gestern abend mit jemandem über konstantin wecker, der andere fand den relativ unverzeihlich, aber meine erinnerungen sind gut und hell. sein pathos ist mir damals nicht mal aufgefallen, aber wir liefen ja mit offenen herzen herum, es war okay, wir sangen einfach mit, überhaupt komm ich aus italien, die haben andere sorgen. die tonlage war bisschen zu hoch, männerlieder waren das.)

gefunden: 1977 in bologna, dalla-guccini-vecchioni haben spass.

just music

manchmal bin ich ratlos vor unserer fähigkeit zur liebe, all diese nervenbahnen und sinne dafür, ein ganzes orchester, das immer nur proben und nie spielen darf, es wird gelegentlich gebucht, aber dann wieder ausgeladen, oder es kommt keiner, oder es gibt das konzerthaus gar nicht, nicht mal die stadt, und so wird es über die jahre ein bisschen sonderbar und taucht gelegentlich in vollem ornat in einer dorfdisco auf, wo eine olle jukebox genügt hätte, oder es wendet sich unbekannten finnischen komponisten zu, obwohl es jederzeit mahler spielen könnte. vieleicht konvertiert es auch in toto zum elektronischen minimalismus. der dirigent sitzt dann nach den heimfahrten noch eine weile in seiner bahnhofskneipe und hält reden.

deckenhöhe >4m, plus frozen shoulder minus 4m-leiter = die reparierte küchenlampe bleibt unten. komme nicht an die zimmerdecke dran, und wenn, dann nur mit einer hand. ist das nicht albern? keine erinnerung mehr dran, wie die ganzen deckenlampen aufgehängt wurden beim einzug, erinnere mich dunkel an eine alte holzleiter mit einem kettchen zwischen den beinen, auf der man noch höher hätte steigen können, bis zum dach und weiter, solange es eben geht, soweit man sich traut. ich weiß noch, wie wir mit einer gewissen gemütlichkeit die braun lackierten stuckelemente der zimmerdecken abgekratzt haben, es war eine freundliche hohe leiter.

da war der mieter aus der dritten etage, ein alter physiker, der mit dem blumenornament rund um seine deckenlampe begonnen hatte bei einzug, und die ehemals feinen blütenblätter mit winzigen spateln und schraubenziehern gereinigt hatte, eine nach der anderen, alle farbschichten ab, jede schicht einzeln. er nannte es sein projekt, es wurde nicht fertig in den ersten jahren, die wir hier gewohnt haben, immer blieb ein teil des kranzes unter dem glänzenden dunkelbraunen lack versteckt. der physiker ist gestorben vor 2 jahren, ein krebs, innerhalb weniger monate, ich war noch einmal wieder in der wohnung nach seinem tod, hab mir den stuck angeschaut, er hatte eine feine und zarte linienführung, man konnte jetzt auch die blumenart erkennen, offene rosenblüten, in einem matten, leicht pudrigen weiß. die bewohner sagen mir, der vormieter habe ihn wohl aufsetzen lassen, er sei sicher neu, nein, da war kein brauner lack, wieso überhaupt sollte jemand so schönen stuck mit lack übertünchen?

der blumenkranz an der decke über meinem bett ist eher wie kinderformen aus dem sandkasten, ich kann das muster ohne brille grade noch erkennen, but well.

andererseits ist es jetzt morgens schon so hell, man braucht gar keine lampe mehr zum frühstücken.