beim schlingensief-stück alles total richtig gefunden. da sind ja diese phasen, wenn man sterben muss, verleugnung, wut, verhandeln, trauer, akzeptanz, und es gibt so eine gesellschaftliche übereinkunft, dass man als guter sterbender am ende bei der akzeptanz landen sollte. schlingensief tut das nicht. er weint und argumentiert und schreit auch, mal verzweifelt, mal ironisch maskiert, nicht so aufdringlich wie erwartet, aber es ist schon schwer auszuhalten, wenn ein erwachsener nicht befreundeter mensch schluchzt, man möge ihn nicht berühren, jetzt nicht bitte, dabei ist man ja selber wegen grenzüberschreitung sehr berührt von diesem intimen ton. ich fand es eher erleichternd, dass diese ungeheuerlichkeit des todes mal ihren schrecken zeigen darf. das ende des stückes kam dann aber irgendwie nicht, sondern eine stimme sagte in die stille hinein, nachdem schauspieler und chor den raum verlassen hatten: bitte warten sie noch, den einzug machen wir nochmal, mit ein paar regieanweisungen, und das publikum wusste nicht, was es tun sollte oder was passieren würde, auf eine schräge und gemeine art passt das zur situation des regisseurs. die kirche der angst vor dem fremden in mir ist ein großartiges stück lebenstheater, und in all seiner kindlichen verzweiflung sehr heartfelt – die begleitung fand es zu lärmoyant, man kann natürlich auch einen diskreten krebs haben, aber nicht schlingensief, als narzisst und bilderstürmer und chaotischer regisseur, und so war es dann noch mehr fluxus als die anderen stücke von ihm, hier mit einem schwerpunkt auf dem leben, vor der kunst. da wird in einer auseinandersetzung mit dem tod wenig rationalisiert und nichts versteckt, es ist weniger ein reden über, hier weint das kind und will einfach nicht. deshalb bitte: lauter, länger, das war ein raum für die angst und die lebensliebe da in der kirchenattrappe. ein intensiver abend.
(und er hat bisschen gegen die katholiken theater gemacht, und gegen seine familienkirche, das war der eher inszenierte teil des stücks, die klage über die abwesenheit gottes und der mutter und die futility der religion, aber es ging in den ganzen anderthalb stunden nur um den mangel an trost angesichts der todesnähe.)
ich sass am ende, nachdem ich schon rausgehn wollte und dann nochmal zurückgekommen bin, in der letzten reihe und hab noch ne hostie bekommen von einem der kinder, die als messdiener oder sowas auf der bühne standen.
Die Prozesse von Krankheit und Tod sind aus unserer Lebenswirklichkeit ja häufig komplett ausgeblendet – wo sollen sie auch stattfinden, wenn es in der Regel die größeren Familienzusammenhänge gar nicht mehr gibt. Daher mag ich mir kaum vorstellen, Schlingensiefs Exorzismus als zu lärmig/larmoyant zu finden. Pathos hat ja eine ungute Akte, aber die ewige postmoderne ironische Distanz zu allem und jedem kann es auch nicht sein. Diese Haltung ist alles, aber nicht souverän. Das wäre, den Schmerz auch auszuhalten, in all seiner Lautstärke. Schade, ich hätte es gerne gesehen.
Die Prozesse von Krankheit und Tod finden im Krankenhaus und zu Hause statt, oft auch im Straßenverkehr, manchmal sogar im Urlaub (Schweinegrippe) oder am Arbeitsplatz. Daß sie aus der Lebenswirklichkeit ausgeblendet wären, mglw. sogar Tabuthemen sind, vielleicht weil sich professionelles Personal um die unmittelbar Betroffenen kümmert, kann ich nicht bestätigen. Die Vorstellung vom trauten Familienkreis dagegen, in der anno dazumal gestorben wurde, weswegen Siechtum und Tod noch im allgemeinen Bewußtsein gewesen sein soll – im angeblichen Gegensatz zu heute – beruht doch auf einem nostalgischen Ammenmärchen, jedenfalls wenn damit ein positives Gegenbild zur Gegenwart gezeichnet werden soll. Vermutlich wurden bis ins vorletzte Jahrhundert hinein die Siechen vor die Stadttore gekarrt, wenn sie nicht zuhause in einer Ecke hinterm Vorhang vergammeln durften. Wer schwerkrank ist oder stirbt, strengt an und geht auf die Nerven und das war vermutlich auch früher schon so. Besonders souverän oder menschlich gelungen will mir dabei das „Aushalten“ von anderer Leute Schmerz nicht grade vorkommen. Erstens macht das jeder andauernd und zweitens leuchtet mir nicht ein, wieso man über das unvermeidbare Minimum hinaus überhaupt etwas aushalten sollte – als wäre das Angebot an Zumutungen jeder Art irgendwie nicht groß genug. Vielleicht kriegt man ja sogar selber mal Krebs, da hat man dann was zum Aushalten. Oder eben auch nicht.
Der reale Todeskampf und -krampf ist doch notwendigerweise etwas gräßliches individuelles und zugleich allgemeines, das in der ein- oder anderen Form alle erwartet. Ich fände es ja erfreulich, wenn um diese Trivialität nicht so ein Gewese gemacht würde, schließlich ist jeder mal der einzige zum Tode verurteilte, während die anderen alle weiterleben dürfen, die Arschlöcher. Ich würde mich freuen, wenn einer von denen dann mein Händchen hält – hoffentlich muß der dann nicht soviel aushalten und ich hoffentlich gar nichts.
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wow. och.
vielleicht bist du ein mann mit einsiedlerbegabung, der lieber in einem kloster mit guter brauerei sterben sollte – nee, aber wenn mir jemand liegt, dann halte ich sowas aus, ganz klar eine selbstverständlichkeit und keine zumutung, so man sein empathielevel irgendwie in den griff bekommt, weil ja vor dem aushalten meistens jede menge teilen und gewohnheit und nutznießen und geben/nehmen war, das ist doch das ziel von gemeinschaften. bisschen arbeit dürfen die schon machen. und außerhalb vom engeren kreis ist es ja nicht so, dass die leute schlange stehen zum leid abladen, nicht mal in der großstadt, das ist hin und wieder mal jemand, der das braucht.
wie das früher ausgesehen hat, mit vor-die-stadttore-karren oder nicht, keine ahnung. tod war trivialer und häufiger früher, aber die ritualistik hat das doch auch dann begleitet mit letzten ölungen, schmerz war unvermeidbar, ihn anzuhören sicher auch. die haben den schmerz der anderen bestimmt auch lieber ausgehalten als den eigenen, aber ne zumutung? es gab bestimmt ein beissholz und damit gut.
und so im kulturellen kontext, wenn dir schon das gewese um die todestrivialität auf die nerven geht, wie hältst du denn dann das getue um die liebe oder das geld aus? du kannst ja einen gewesefreien film über liebe und tod machen, wo alle immer nur „ja“ oder „nein“ oder „nun gut“ sagen. ach nee, den gibts ja schon, eustache, oder? den kann ich mir dann erzählen lassen und muss ihn nicht angucken, das spart zeit, die hab ich dann für mein theater hier. ich mein, für gewese bleibt dann bloss gartenbau oder rechtssprechung, das ist doch auch nichts.
(kinder sind hochbegabte pathetiker übrigends, also heute in zeiten ohne schläge, hunger und kälte, bei denen ist alles immer total existentiell und tiefdurchlitten, da kann man das üben mit dem zumutungen aushalten.)
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der theaterregisseur gosch, der macht richtiges theater, nicht nur so einen wilden (selbst)bildzirkus wie schlingensief, von dem heißt es in einem satz „von seiner schweren krebserkrankung gezeichnet“, das ist natürlich viel erwachsener und höflicher. aber ich finds gut, dass einer auch mal brüllt, wenn was wehtut, mir fehlt das in d.
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Herr pier, ich habe mal eine zeitlang in der Pathologie gearbeitet und erlebt, wie sehr das Thema Tod, der Anblick der Leiche tabuisiert, mit Ekel belegt und schlicht sehr oft „ausgeblendet“ wurde. Angehörige, die Schwieirgkeiten hatten, sich den Verstorbenen noch einmal anzusehen. „Früher“ wurden Verstorbene tatsächlich noch häufiger eine zeitlang zu Hause aufgebahrt, damit Freunde, Verwandte Abschied nehmen konnten. Ich höre davon heutuztage eher selten.
Erstens macht das jeder andauernd…
Ist das so? Mir scheint das Gegenteil der Fall.
…hoffentlich muß der dann nicht soviel aushalten und ich hoffentlich gar nichts.
Ich glaube, wir kommen dem Verständnis über das „Verdrängen“ hier ein Stück näher.
Das Gewese um Liebe und Geld ist selbstverständlich ebenfalls schwer auszuhalten für mich und möglicherweise argumentiere ich voll aus dem Glashaus raus. Geht es nicht auch mir, geht es nicht überhaupt sowieso bei allem immer um (ergänze im letzten Fall ein „nur“) Leben, Sterben, Liebe, Geld? Die Frage ist, mit welchen stereotypen Vorstellungen man sich dem Schlamassel widmet. Daß Ihnen, Herr Kid, mein frommer und zugleich natürlich auch trivialer Wunsch nach möglichst wenig Todeskampf Indiz für „Verdrängen“ zu sein scheint, will mir da wie ein solches Stereotyp vorkommen. Aber vielleicht habe ich Sie auch mißverstanden.
Ich fürchte allerdings auch, mich nicht richtig verständlich gemacht zu haben. Ich wollte u.a. zum Ausdruck bringen, daß ich den Umgang mit Tod, Krankheit und Sterben heutzutage und hierzulande im allgemeinen nicht beklagenswert finde –ich las das aus Ihrer Bemerkung heraus, Herr Kid, auch wenn Sies nicht unbedingt hereingetan haben– und vor allen Dingen, daß es kaum der Empathie bedarf, um das Leiden anderer auszuhalten, eher im Gegenteil, was sicher auch eine Weisheit aus Binsen ist, weswegen ich das ganze vielleicht nicht grade hier vertiefen will.
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Ich weiß natürlich auch nicht, ob man sich den letzten Dingen überhaupt anders als stereotyp nähern kann. Schließlich fehlt uns immer die eigene Erfahrung damit. Wir haben alle Schiss – ich jedenfalls – und ich denke, daß macht auch Schlingensiefs exorzistischen Exhibitionismus teilweise schwer erträglich. (Ich habe neulich ein Stück des abgebrochenen TV-Interviews mit ihm gesehen. Mann, Mann.) Wir wünschen uns und unseren Begleitern eben alle das „sanfte Entschlafen“, häufig läuft es aber ganz anders. Das Sterben ist eine große Scheiße – und wer will darüber schon nachdenken, sich damit konfrontieren. (Ich glaube, das hat jetzt aber vielleicht zuviel mit den ureigenen Erfahrungen damit zu tun. Man will ja keine Floskeln schreiben, kommt der Sache anders aber auch nicht nahe.)
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Casino, Du darfst nicht vergessen, dass die Zeremonien früher (oft heute noch) in ziemlich feste religiöse Systeme eingebunden waren, die z.B. einem Selbstmörder dann die Bestattung auf dem Gottesacker untersagten. Zeremonien können wichtig sein in der Trauerarbeit, auch Floskeln (die ich angemessen diskret finde) aber die, die Du meinst, kannst Du von den repressiven Systemen (die gesellschaftlich nicht unwichtig sind, denk vor allem an Dörfer) nicht trennen.
Und auch das Familiensystem dahinter konnte/kann reaktionär sein (Witwen in italienischen Dörfern, die noch vor 30 Jahren verpflichtet waren, jahrelang schwarz zu tragen, sowas hats auch in Deutschland gegeben; die Verpflichtung, eines Verstorbenen auch nur ja mit Trauer zu gedenken, egal ob man von ihm vielleicht sogar tyrannisiert wurde; dann denk nur mal an die Erbschaftsstreitereien, die oft schon vor dem Tod einsetzen, also dem Sterbenden selbst noch aufgedrängt werden).
Andererseits sind die wenigsten Altersheime und Hospize heute noch die Abstellkammern, die man sich darunter vorstellt. Ich habe alte Frauen gekannt, die nach der Trennung von ihrer Familie aufgeblüht sind, um dann zwischen den Menschen des Altersheims zu sterben.
In meinem Arbeitsbereich bekomme ich oft und sehr nah mit, wie es ist, wenn jemand im Sterben liegt — ehrlich gesagt, kann ich überhaupt nicht beurteilen, ob das heute von den Familien oder den Freunden weniger oder intensiver begleitet wird, es ist schlicht und einfach individuell. Ich sehe da keinen „Trend“, keine Möglichkeit, eine gesellschaftliche Allgemeinaussage zu machen. Ich könnte mich jetzt also weder Pjer noch Dir anschließen.
Ich wüsste nicht einmal, ob dieser Hintergrund meiner Arbeit mich zu einer Einstellung dazu qualifiziert, weil am Ende schaut man sowieso von außen zu.
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goncourt, du hast natürlich recht mit deinen beobachtungen, die ganzen dinge, die den tod ans leben binden, mit all dem die beziehung zum toten aufrechterhaltenden regelwerk, und mit der repression, die du beschreibst, in all ihrer absurdität, auch das alles eine form der verleugnung von endgültigkeit und abwesenheit, wenn man so will. grad das mit den witwen, die den toten nicht verlassen durften, und tod tragen mussten, weil der tote sie ja nu nicht mehr tragen kann, brr, das ist in der tat finster.
aber was mir wichtig war, angesichts schlingensief oder den eigenen erfahrungen, ist der moment der fassungslosigkeit, den die alten umgangsweisen vermeiden oder sogar funktionalisieren (ohne tod hätte die ganze religion keinen fuss am boden, schon lustig) und den die neueren wegrationalisieren sollen, also nicht der bezug aufs gesellschaftliche, sondern das subjekt selber und alleine, das in die gesellschaft hineingedrückt werden soll mit seinen urängsten und seiner lebenslust. schlingensief verweigert alle rituale, tabus oder religiösen hilfestellungen, und fängt am ende seiner auseinandersetzung wieder von vorne an, wie damals mein sohn david, der nach meinen erklärungen zum tod, „alle müssen“ immer mit seinem „aber ich“ dazwischen kam.
mich hat das einfach sehr gefreut, das da mal einer brüllt, und auch das ganze system theater mit seinen finnzierungen und publikumserwartungen und affirmativen kulturaufgaben einfach kapert für seinen exorzismus, danke kid, und für seine verzweiflung.
und ja, man schaut am ende einfach zu, das ist es ja, jeder ist allein beim sterben, näher geht es nicht.
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“Do not go gentle into that good night,” Dylan Thomas wrote. The truth is, nobody needs to be told.