ich war 1990 mit meinen eltern in hongkong, für ein paar tage auf der durchreise zwischen japan und china. hongkong war eine aufregende zwischenwelt, schon das landen war einen tick zu spannend, rechts und links wasser, direkt davor großstadt, die walled city kowloon lag in der nähe des flughafens, andererseits liegt alles in der nähe von allem bei so dichter besiedelung. ich hab kowloon city damals nur von aussen gesehen, es war auf der liste der interessanten ziele für touristen, ich bin nicht auf die idee gekommen, hineinzugehen und war auch nicht besonders neugierig, weil ich die fremdheit der stadt nicht differenziert wahrgenommen habe, nur das kaninchenkäfighafte der fasssaden erinnere ich als außergewöhnlich selbst im rahmen der allgemeinen fülle an außergewöhnlichkeiten.
seitdem versuche ich meine faszination zu verstehen, mehr über kowloon als forschungsobjekt denn über den häuserblock selber, das labyrinthische wachstum, die häuser oft „build from experience“ kreuz und quer durcheinander, ohne licht und fliessendes wasser, ohne staat und steuern, aber als funktionierendes, sich selbst erhaltendes stadtsystem.
die beiden fotografen greg girard und ian lambot sind 1990 für einige wochen durch die walled city gestromert, haben fotografiert und mit den bewohnern gesprochen, interviews geführt und ihre beobachtungen aufgeschrieben. zusammen ergab das einen dicken bildband, der seit 1993 immer wieder neu aufgelegt worden ist. die beiden hatten dann die wahnwitzige und ehrgeizige idee, statt einem weiteren nachdruck eine komplett überarbeitete neuauflage vorzulegen, über einen stadtteil, den es nicht mehr gibt (die walled city wurde 1992 abgerissen und durch einen park ersetzt), der aber einen intensiven und vitalen nachruhm geniesst, ganz anders als zur zeit seiner existenz, wo der ruf eher ruiniert war.
wie nennt man die lebenszeit einer stadt, die es nicht mehr gibt, wie pompeji? im china und asien wird ja oft kurzer prozess gemacht mit alter architektur, da gibt es bestimmt ein wort dafür.
kickstarter war begeistert, die kampagne ein voller erfolg, das buch ist tatsächlich zustande gekommen, letzte woche hab ich es endlich erhalten und es ist ein holy-shit-buch geworden. weiss nicht genau, was mich daran so berührt, also neben der begeisterung auch noch berührt. vor allem, dass es das viertel nicht mehr gibt, eine abgeschlossene geschichte, und dass der gegensatz zwischen dem nichts heute und der ungeheuren dichte damals so groß ist. der alltag im viertel, die resilienz in widrigen umständen, wieviel in so eine normalität hineinpassen kann. die walled city war der am dichtesten besiedelte ort auf der welt, und „it had somehow succeeded in giving its residents a life worth living“ (peter popham in der einführung, s. 16).
auch die beruhigung dieser art von dichten architektur, horror vacui in vollendung, kein raum für repräsentanz dazwischen, keine fassaden, alles überfüllte funktionalität, jedes kabel, jedes rohr hat einen sinn und eine geschichte und ist nicht überflüssig. die abwesenheit von abstrakten gesten der macht, die macht bleibt wohl an die primären bedürfnisse gebunden, wasser, strom und luft, sex und drogen bis in die achtziger, aber dann wurde es wohl so, wie im rest der stadt auch. wie diese ganzen räume genauso vollgestopft sind wie man selber und ähnlich gefangen in einer umgebung, die eben so ist, wie sie ist, die freiheit vom kontrollwahn des geplanten lebens, da ist platz, da kommt was hin (all diese freidrehenden designblogs, wie der kleinste teil meines lebens so gestaltbar ist und mich die maxime der freien wahl eher aggressiv macht) (die gründe dafür können die unterschiedliche bedeutung der beiden teile des vergleichs, ich und welt, ignorieren, sind mehr freud als soziales gewissen), wie dabei nebenbei auch konzepte wie hygiene und privatsphäre über bord gehen … ich will ja nicht so leben, aber dass es möglich war, finde ich eher tröstlich als erschreckend. redux to the max.
die fotografen haben einige der der langjährigen bewohner von damals ausfindig gemacht und sie erneut interviewt, lebensgeschichten sind verstreut über das buch, dazwischen die berichte aus der ersten ausgabe, deren letzter satz, bezogen auf die damals bevorstehende räumung, oft auf „I will not move, even if we are machine-gunned“ hinausläuft (s. 294). diese geschichten sind das spannendste neben den sehr einmaligen bildern, wie die bewohner die enge, lichtlosigkeit und improvisierte architektur nur im nebensatz erwähnen, wenn sie ihre leben erzählen, wie die lebensumstände in ein paar anekdoten auftauchen, sonst aber schwellenlos verschwinden im alltag, wie sie von arbeit und familie erzählen, ihren kindern und gewohnheiten, der wohnort als lebensraum nur ein kleiner teil det janzen.
die autoren haben auch neue bilder dabei, also neu ausgewählte alte, dazu texte von autoren, die langjährig am haken der stadt hängen, ob mit oder ohne persönliche erfahrungen, der häuserblock bietet ja eigentlich genug für viele disziplinen, zwischen urbanem leben, soziologie, ethologie und anarchie, also wenn man die kriminologie mal als teilsdisziplin aller begreift.
die alte ausgabe von anno damals habe ich nie gesehen, ist viel zu teuer inzwischen, die neue ist ende 2014 erschienen und wirklich sehr toll geworden, von der idee bis zum fertigen buch ein geschenk. gibt es bei kominek für 75€, man spart dabei den teuren versand aus GB, braucht aber geduld, auch davon wird es viele auflagen geben, ich wünsche es den autoren.
yeah. zusatzkategorie: langtext
Cooles Projekt. ich hatte vor Jahren mal eine Radioreportage über „Hak Nam“ gehört und war bislang davon ausgegangen, daß es die Stadt in der Stadt noch gibt. Ich komme notorisch zu spät, scheint mir. Danke für die Hinweise und Links, ich muß da dringend tiefer graben.
ach, damals gab es doch noch kein internet, ein tag keine zeitung, und man hat die nachricht verpasst! da kommt die mehrheit zu spät, glaube ich. es gibt auch auf youtube ein paar dokus darüber, eine deutsche von 1989 ist dabei, etwas lichtlos, aber das war wohl unvermeidbar damals.
Krass, danke dafür. Hatte die Gelegenheit 2002 für ein halbes Jahr in HK (in Central in der Altstadt) zu leben. Eine großartige Zeit in einer noch großartigeren Stadt, die mir ein echtes Zuhause war (und innerlich noch ist).
ein halbes jahr ist endlich mal die richtige dauer, um eine stadt ein bisschen privater kennenzulernen, das bleibt. schön.
Weißt Du, woran mich das erinnert? An Matera. Auch dieser Punkt: Dass Matera heute ein pittoresker Touristenort ist und damals für das Cholera-Elend schlechthin stand.
das stimmt. in genau dieser kombination. weiß gar nicht, ob ich das traurig oder großartig finden soll.