ich weiß nicht, was ein ort ist, …

der saal voll bis auf den letzten platz, es ist die berliner premiere des stücks aus dem schauspielhaus zürich von 2018. auf der bühne die drei helden angerer, tiedjen und wuttke, nach den ersten sätzen ein zeitreisenfeeling, man erkennt pollesch sofort, noch bevor ich weiß, ob das stück gut oder nicht so gut ist, es ist eine sprache zum reinlegen, immer hin und her zwischen drinnen und draußen, innen und außen, dem ich, der haut und der gesellschaft. ich sass sehr weit vorne, das war toll für wuttkes gesichtslandschaft, aber es wäre auch von hinten alles zu hören gewesen, die drei sprechen die ganze zeit mit vollkommen müheloser und irgendwie demokratischer diktion, jede idee, jeder satz hat das gleiche gewicht, es hat einen kleinen aspekt von reden über (ein thema) anstatt von reden als (eine figur, die das gerade erlebt). habe den begriff interpassiv, gefunden, der diese art des theaters beschreibt, weiß aber nicht, ob das passt, vielleicht reicht auch einfach diskursiv, weil interpassiv ursprünglich bezogen wird auf externalisierte gefühle oder leidenschaften, die dann halt jemand anderes erlebt, und in diesem stück stirbt oder liebt ja keiner, es zeigte sich eher die allgemein menschliche wahrnehmung vom unterschied zwischen ich und welt, dem intensiven und weltfüllenden eigenem empfinden und den teilnahmslosen oder in der wahrnehmung der eigenen realität gefangenen/aufgehobenen anderen, oder vielleicht einfach die grenze der empathie. pollesch beschreibt es so:

„Es gibt so viel Verzweiflung in der Welt und die Leute machen doch alles richtig, ich meine, es gibt ja eigentlich objektiv keinen Grund zur Verzweiflung, also irgendwo muss die herkommen, ja, und vielleicht kommt sie daher, dass wir natürlich gewohnt sind, uns nachvollziehbare Geschichten zu erzählen, aber wir etwas völlig unnachvollziehbares leben, und das dauern irgendwie kippen müssen, und wir nicht sehen, wo steckt denn eigentlich das Problem, denn das Problem ist eigentlich nicht da und unsere Arbeit im Theater ist, Probleme zu markieren, wo scheinbar keine sind […]“ (von hier)

ich mag das sehr, diese art theater, ich fühle mich die ganze zeit angesprochen, verstanden, gemeint, und werde dabei in ruhe gelassen. kann man halt nix mit nach hause nehmen, keine erkenntnis, keine zusammenfassung, man sollte einfach einziehen ins theater.

wendung ins weniger ungefähre: das ist auch eine sache, die zum beispiel im beruflichen kontext den unterschied zwischen selbstwahrnehmung und außenbild kennzeichnet, wenn du nur für dich gut bist, bist du es eventuell für niemanden, grade beruflich sollte man besser laut sein, demonstrieren, zeigen.

vielleicht ist es freundschaft oder liebe, wo möglichst viel von diesem unnachvollziehbaren selbstverständlich wird, blind verstanden, als beziehungsraum bewohnbar wird? das gesehen werden, ohne dass du dich dauernd mitteilen oder zeugnis ablegen musst, es reicht ja, zu wissen, dass der andere genauso viel wahrnimmt wie du selber, und es auch nicht mitteilen kann. naja, immerhin habe ich ein blog dafür.

hm. bin noch unzufrieden, aber egal, vielleicht könnt ihr was damit anfangen.

volksbühne – mein gott, herr pfarrer!

ein problem des spätmittleren alters ist dieser unklare mangel, den frau nicht genau begründen kann. lässt der verstand nach, ist das gedächtnis einfach von alleine zum sieb geworden, hab ich jetzt wirklich schon mit ende fünfzig arthrose, ist es ein leichtes postcovid, oder sind es die wechseljahre? geht das vorbei, oder bleibt das so? der bauch wird wohl sicher bleiben. es ist ein kreuz mit dem frausein.

dann lieber theater, gestern erst hinten, dann wegen leeren plätzen im mittleren drittel gesessen, sophie rois und inga busch sehen beide alterslos und jung aus, da ist vielleicht aber auch die entfernung von der bühne besser als cgi oder andere maßnahmen, und nope, das vergleichen kennt kein halten, ist aber nicht mehr so existentiell bedrohlich wie früher die wahrnehmung von schönheit anderer frauen, die waren fast alle immer schöner, jetzt ist es mehr interesse. das altern schafft gleichheit, es ist sehr demokratisch.

nicht mehr alles hören können leider, aber das stück war solide, pointiert, also mehr pointen als handlungsverläufe, einzelne zeilen sind so gut, im ernst, ich versuche dann da in meinem stuhl mir die zeilen zu verinnerlichen, aber derweil geht ja das stück weiter, nicht schlimm, man kommt immer wieder rein in den flow, das synchrone vs das diachrone theater, wie immer denke ich dann beim zuschauen, ich hätte vielleicht etwas verpasst, würde gerne nachschauen (ein paar pollesch-stücke gibt es als buch, aber viele sind nicht zum nachspielen freigegeben, falls jemand weiß, wo man sie zumindest nachlesen könnte, bitte gerne!), das stück passiert im text, im wortwechsel, im gespräch.

das bühnenbild war toll, es ist mehr eigene kunstform als nur ergänzung und staffage, das gefällt mir, es gab auch einen mädchenchor, der halleluja und ein kyrie gesungen hat, ich weiß nicht, der gehörte irgendwie mehr zum bühnenbild als zum textanteil des stücks. der taz-kritik entnehme ich heute, dass der bergman-film von 1962 „licht im winter“ fürs stück eine zentrale referenz ist, nun ja, hätte ich das gewusst! es hätte nichts verändert vermutlich, das stück trägt sich selber, mit leichtigkeit. ich les ja vorher keine kritiken. so blieb ein bisschen offen, woher allgemein das thema jetzt gekommen ist, wobei die klare und herzzerreißende frage „mein gott, warum hast du mich verlassen?“ natürlich seit zweitausend jahren im raum steht, und, wie sophie rois im stück sagt: „es hat immer noch niemand geantwortet.“ auch sehr schön: „alle reden immer von erlösung, aber hier sind gar keine erlösten.“ (oder so ähnlich). sie ist ein energiebündel, wirkt wie eine tänzerin, die jederzeit alles vom stapel lassen kann, wie bei sehr guten musikern spürt man bei den leisen, eindringlichen stellen, wie gut sie ist. sie füllt den raum. benny claessens übrigens genauso sensationell, bei ihm kommt mehr emotion rüber, also wenn ich meine jetzt paar tage später aufplopppenden erinnerungen richtig deute, die körper/stimme-einheit funktioniert irgendwie anders, von seiner körperlichen präsenz ist mehr spürbar. sehr gern gesehen jedenfalls, geht hin.

danach gegenüber der vb noch ein bier vorm hostel, umgeben von sehr, sehr jungen menschen, die alle zigaretten, sogar zigarren!, und ein bier in den händen halten, teilweise gleichzeitig. sie kommen aus holland und sind das wohl gewöhnt so.

die ankündigungen vom datingportal („sie haben post!“) lese ich inzwischen mit ähnlichem gefühl wie die von der lottogesellschaft („sie haben gewonnen!“)- die nachrichten lassen sich in etwa zusammenfassen mit „hi, hier sind 3 euro fuffzich, und ich seh keine likes.“

theater, mütter, kinder

das theater voll bis auf den letzten platz, zum ersten mal seit jahren auf tuchfühlung mit den anderen zuschauern, sehr ungewohnt, hat ein paar minuten gedauert, bis die kleine aufregung wieder weg war. zwischen 2 männern gesessen, einer hatte eine rose dabei, der andere sprach mich an, ob wir uns nicht schonmal gesehen hätten, ich habe sofort angefangen darüber nachzudenken, wann das gewesen sein könnte, und ja, hatten wir, er war mal auf einem filmabend in meiner wohnung, vor zweistellig vielen jahren, und er wusste den film noch.

das stück ist schön, es hat funktioniert, weil ich so etwas gebraucht habe, ich mag die direkte ansprache bei pollesch, mit diesem leichtem vorwurf in der stimme, wie alles ausgesprochen und dann im raum stehengelassen wird, und wie sich das anfühlt („ich bin müde“ hat hinrichs immer wieder gerufen), und wir sollen die maske abnehmen, die sei doch alt, eine woche alt, einen monat, er gibt uns eine neue. wunderbar, solange es anhält, ein theaterzauber alter schule, ganz im magischen theaterpräsens aufgehoben. von den pollesch-texten ist früher mehr übriggeblieben, das hier war mehr so eine ankerboje auf freier see zum kurz durchatmen.

kann schlecht schreiben grade, ich glaube, wegen bz-schwankungen mit dauernden hypos. wortfindung ist wie tapern im dunkeln. woche war total anstrengend auf eine weise, die mir nicht gefallen hat, muss mich besser vorbereiten. freitag abend wieder zu müde für irgendwas und versehentlich vor neun eingeschlafen, dann nochmal raus zur hunderunde, dann bis halb eins im netz gedümpelt, sehr erholsam, weil luxus um die uhrzeit. samstag auch nicht für mich gewesen, ärger mit dem blutzucker, möchte an dieser stelle meinen verfickten herumzickenden diabetes mal so richtig, aber nützt ja nüscht. heute schöne pläne und gute gedanken, damit die nächste woche besser wird. drücken sie mir die daumen bitte.

noch einen schönen text gefunden, im new yorker, unter anderem über die mütter, die alles zusammenhalten, auch disfunktionale ehen. ich bin damals gegangen, weil nach allem, was passiert war, die liebe weg war. die guten gründe für die trennung und der alltag meiner kinder danach stehen nebeinander, ohne viel voneinander zu wissen, die kennen sich irgendwie nicht. so ist das mit der verantwortung.

pollesch: aufstieg und fall eines vorhangs

die volksbühne ist wieder offen, ihr neues logo ist eine grobpixelige und knallbunte darstellung des alten logos, das es ja nicht mehr gibt, auf dem platz vorm theater steht jetzt ein zirkuszelt, gestern war es zu, aber es steht als zusätzlicher veranstaltungsort im programm. der zirkus vielleicht auch als sehnsuchtsort, wo die illusionen noch tragen, die wünsche einfach sind, wuttkes kostüm ist eine gute mischung aus zirkusdirektor und theaterpunk mit totenkopf-shirt. und ich sitze mit freundin a. oben im rang, die plätze neben uns sind mit bändern hochgebunden, wenn man nicht aus dem selben haushalt kommt, echt aufwändige vorbereitung. wir machen die bänder auf.

martin wuttke und katrin angerer auf der bühne, sie spielen mit theaterformen, das publikum im raum als ein freies element, von den schauspielern mal dargestellt, mal umworben. in der ersten szene sehen wir angerer und wuttke als regisseur und schauspieler (glaube ich, es war kein klares bild), wie sie einen kartentrick ausführen wollen, miteinander und also mit uns, dann zieht wuttke immer die falschen karten (aus einem programmzetttel: „also kommen sie, ziehen sie eine karte! … nein! das ist mein rezept für dingsda. sie vertun sich aber auch ständig. sie sollen doch eine karte ziehn.“) das ist ziemlich lustig und sehr pollesch. die szene endet mit einer waffe, aber es stirbt keiner. die vier personen auf der bühne (susanne bredehöft und margarita breitkreiz sind die anderen beiden) zeigen uns durch den abend immer wieder die instrumente, die dialoge sind schnell und wechseln mühelos die ebenen, ernst, albern, oder „kubistisch“; wie wuttke einmal ruft, als 3d-figur zusammengesetzt aus meinetwegen rolle, schauspieler und theatertheorie, alle ebenen gleichzeitig. ich weiß es aber nicht genau, wer jetzt gerade als was auftritt, es ist auch nicht entscheidend, alles fließt, wie bei pirandellos 6 figuren, die einen autor suchen, aber das ist halt 21. jh., da steht das ganze theater auf dem spiel, mit im spiel, und es ist nicht mehr klar zu verstehen, was wir voneinander wollen können, publikum und theater, da können sich die theaterleute noch so anstrengen, und dann gibt es doch nur aber immerhin zaubern sie uns ein kaninchen aus dem hut, dargestellt durch einen riesigen echten weißen hasen, der ein paar schritte auf der bühne machen durfte.

viel text, den ich hoffentlich irgendwo nachlesen kann, oder ich geh halt nochmal rein. auf dem programmzettel steht sekundärliteratur, aber da bin ich klassisch orientiert, nach dem stück ist das stück vorbei.

mitten im geschehen der bühnenvorhang, aber als federleichte, leuchtend orangene version seiner selbst, die grenze zwischen uns und dem theater ist beweglich und bei pollesch tanzt sie mit den schauspielern, deckt sie zu, liegt wie ein multidimensionales und bewegliches objekt mal vor, mal hinter, mal auf den menschen auf der bühne. in einer szene zwingt angerer als dompteuse den vorhang in die höhe, um die bühne freizugeben, mit so einer art psychedelischer peitsche aus dem gymnastikkurs, das war mein liebstes bild.

am ende gab es noch einen epilog von wuttke, da hab ich leider nicht mehr richtig aufgepasst, aber es ist keiner gestorben, anders als bei pirandello, wo am ende alle auseinanderlaufen und nichts mehr mit dem theater zu tun haben wollen. großes yeah-gefühl bei der freundin und mir, es geht weiter, es gibt wieder spannendes theater, wir dürfen schauen und denken und bisschen glücklicher nach hause gehen.