Bin gerade wieder in einem sehr großen, alten, wunderbaren Hotel unterwegs, erfunden vom britischen Autor James Gordon Farrell. Handlungsort ist das Hotel Majestic, ein schloßähnlicher riesiger Kasten mit verschiedenen Flügeln, vielen Türmen, einem Ballsaal und einigen hundert Zimmern. Es steht an der irischen Küste am Meer und hat Anfang des 20. Jahrhunderts seine besten Tage lange hinter sich, wie fast all diese großen Hotels in der Literatur, es kommen kaum noch Gäste, nur eine größere Menge alter Damen mit nachlassender Zahlungsmoral, die nicht wieder abreisen, das Hotel wird Stück für Stück sich selbst, den Katzen und dem Efeu überlassen, der es von außen zumindest für die ersten drei viertel des Romans noch zusammenhält.
Ein Major überlebt den ersten Weltkrieg nur knapp und will seine Braut besser kennenlernen, die Tochter des Hotelbesitzers. Es kommt ihm dann eine Weile immer wieder etwas dazwischen, die Dinge entwicklen sich anders als erwartet, aber der Major bleibt erst Wochen, dann Monate im Hotel kleben, auch weil er nicht genau weiß, was er jetzt mit seinem Leben anfangen soll. Farrell gelingt im Buch ein Tonfall, wie man ihn zuletzt in der Erzählerstimme des Grand Hotel Budapest gehört hat, unerschütterlich (ein häufiges Wort im Roman) höflich, mit einem zurückhaltenden und sehr trockenem Humor. Die Leserin gewöhnt sich daran, bis der Autor zum Ende hin die Dosis steigert, ganz langsam, dabei absurder und drastischer wird, immer im Tonfall souveräner Wohlerzogenheit, es gibt sogar Schüsse, einen glamourös verunglückten Ball und eine leidenschaftliche, wenn auch unerfüllte Liebe und jede Menge dramatischer Ereignisse.
So ganz nebenbei beschreibt Farrell dabei den Rückzug des anglo-irischen Landadels aus der Gegenwart, die kleiner werdenden Aufgaben, es gibt 1919 kaum noch Handlungsspielräume für die alten Herrschaften, die traditionelle Landwirtschaft mit Pächtern hat sich überlebt, die Politik findet weitab in Dublin oder London statt, und so spielen sie Karten, warten mit wechselndem Erfolg auf ihren Tee oder eine Mahlzeit, und versuchen halbherzig, die übriggebliebene Dienerschaft zum Arbeiten zu bewegen. Farrell hat dabei auf jeder Seite neue Ideen und Geschichten, ganz nach alter Schule wird jeder Handlungsfaden zu einem Ende gebracht, auch das Hotel wird zu einem Ende gebracht, man hat das Gefühl, er könnte noch viel mehr erzählen und würde aus dem großen Panoptikum nur die wirklich besonderen Verwicklungen aussuchen. Der Stoff hätte für zehn andere Romane gereicht, schon die alten Damen sind jede Zeile wert, die Farrell über sie schreibt, und über die vielen Hunde schreibt er eigentlich auch zu wenig.
Matthes und Seitz hatten vor zwei Wochen auf Facebook Blogger zur Lektüre eingeladen, ich habe mich gemeldet, weil ich so nebenbei etwas über den Irlandkonflikt lernen wollte, der ist so altmodisch und beruhigend nachvollziehbar unter all den Kriegen heutzutage. Und weil ich endlich mal mit gutem Grund einen zu langen Text schreiben wollte. In Troubles lernt man dann viel über die Behäbigkeit einer seit Jahrhunderten gut lebenden Klasse, ähnlich wie von hier aus der Krieg in der Ukraine wahrgenommen wird, vage bedrohlich, nicht verlässlich bewertbar, weit weg.
Die Gäste des Majestic sind mit sich selber beschäftigt, während im Dorf vor der Haustür Hunger und bittere Not herrschen, der irische Bürgerkrieg findet statt, aber immer knapp außer Reichweite, ohne dass es irgendjemandem besonders auffallen würde, die zahlreichen kleinen Gefechte setzen sich nicht zu einem Ganzen zusammen und bleiben in der Wahrnehmung der Romanfiguren lästige und nur leicht beunruhigende Einzelepisoden, die ebenso in Übersee hätten stattfinden könnten: Der Klassenunterschied hält die Welten vollkommen voneinander getrennt. Sehr schön beschrieben, wie die alten Damen, mit Regenschirmen bewaffnet, eher aufgeregt kichernd als entschlossen auf die Dorfbewohner losgehen wollen, die gerade vom verzweifelten Kartoffelklau zurückkommen, etwa in der Art.
Troubles ist der erste Band einer Trilogie, die andern beiden Bände befassen sich mit Indien und dem „Fall von Singapur“ (nie gehört davon). Der Autor hat mit seinen Romanen wohl ganz ordentliche Erfolge erzielt und bekam gute Kritiken, wir wissen nur nichts mehr darüber, die Bücher sind von 1970 bis 1978 erschienen, das ist vorm Internet und entspricht fast einem Jahrhundert in der schnelllebigen Verlagswelt (Versucht mal im Netz Kritiken oder Artikel aus der Zeit vor den Neunzigern zu finden, ich hab das für Horcynus Orca grade versucht) in zweihundert Jahren wird das für die Forscher eine ähnlich massive Zäsur sein wie die Erfindung des Buchdrucks), außerdem ist ihr Autor tragischerweise im jugendlichen Alter von 44 Jahren ertrunken, er wäre sonst, da ist sich Wikipedia einig, einer der ganz großen geblieben. Die Trilogie ist danach für ein paar Jahrzehnte aus jedem Fokus gerutscht, bis ihr erster Band in England 2010 sozusagen postum den Booker Prize bekommen hat, und seit 2013 auch deutschsprachigen Lesern zur Verfügung steht, in der sehr guten und leichtfüßigen Übersetzung von Manfred Allie.
Vielen Dank für den Hinweis. Das Buch möchte ich auch gern lesen.
ich wünsche viel spas damit!
Gerade gesehen, dass es in der Bibliothek ausgeliehen ist, auf English haben sie es dort leider nicht.
es ist auf deutsch sehr gut lesbar (sagt eine, die sonst auch lieber zum roriginal greift), gerade diese spezielle art von höflichkeit passt gut in die umständliche deutsche syntax.
Ein großes, großartiges Buch und gleich The Siege of Krishnapur erzählt auf das Großartigste vom Abgrund kolonialer Gewalt in Indien und vom sterben aller Träume.
wie schön, dass sie es kennen! das lese ich dann in den hellen tagen 😉