früher konnte man einfach reingehen in die kirche, die tür stand immer offen, wie meine freundin a. sich erinnert hat, im innenraum stehen die kirchenbänke in der breite für 4 personen in blöcken hinter- und nebeneinander, meine karten sind für die navata centrale, die ersten paar reihen sind abgegrenzt, bestimmt für die honorationen, sonst ist alles demokratisch offen, wir sitzen weit vorne. fassungslosigkeit angesichts der höhe dieses kirchenschiffs, die mächtigen pfeiler voller figuren, es ist alles so auf überwältigung ausgerichtet, und es funktioniert natürlich, es ist ja eine biophysische reaktion.
zur info: im mailänder dom wird jedes jahr abwechselnd eine der beiden bach-passionen aufgeführt, in der osterwoche, man kann die karten ungefähr eine woche vorher auf der webseite online buchen. sie kosten nichts. in der osterwoche wird die jeweilige passion auch noch zwei oder dreimal im konzertsaal des orchesters aufgeführt, dafür muss man tickets kaufen.
es gibt ein programmheft mit dem vollen text auf deutsch und italienisch, sehr angenehm, es fehlen bloss so kleine displays auf der rückseite der sitze, die hülfen bestimmt auch bei den lateinischen messen, die da immer noch gelesen werden. wir sind früher in der sommerhitze manchmal reingegangen, ich fühle mich in diesem monsterdom sofort allein, irgendwie vereinzelt durch den leeren raum, die kühle wie etwas, das man empfängt, auch gestern kam die kälte im lauf des abends langsam von oben herab und lief den rücken hinunter. so etwas wie eine gemeinschaft der gläubigen ist nicht spürbar, es bist nur du, tief unten und kaum sichtbar. bin sehr froh, dass zwei freundinnen mitgekommen sind, ich hatte tickets über, dann ist noch bisschen anker zur gegenwart und zur alltagsperson, die ich meistens bin.
und dann kommt die musik und … nein, erstmal kommt ein mensch der kirche und erzählt von der tradition dieser konzerte, dann kommt ein dottore und hält einen bestimmt 15minütigen vortrag über die passion, ein brillianter und guter vortrag, der sofort vergessen ist, als die vorführung dann endlich beginnt.
es dauert ein paar takte, bis ich dabei bin, aus planung und aufwand und allem, auf der kirchenbank im hier und jetzt. die stimmen sind klar und schön, es gibt einen kinderchor (voci bianche, weiße stimmen heißen die auf ital.) und den chor la barocca, sie sind richtig gut, der riesige raum des doms liefert von allen seiten ein weiches und flüssiges echo, tiefgang und körper, wie ein riesiges instrument, es vertieft und intensiviert den klang, es ist kein hall wie befürchtet, es klingt wie eine zusätzliche dimension, ein paar sekundenbruchteile nach dem ton, die stimmen und instrumente wie ein feiner wellenkamm auf dem klang des riesigen kirchenraumes, man badet darin, und es trägt.
am liebsten mochte ich diesmal ein rezitativ, tenor mit begleitchören (nr. 19, o schmerz, hier zittert das gequälte herz!), ganz überraschend, das ist mir beim cd-hören nie aufgefallen, durch den großen raum ist der dialog zwischen stimme und chor perfekt auf eine weise, die überall sonst anders klingen wird. das erbarme dich vom countertenor ist natürlich auch zum steineschmelzen, eine körperlose und klare stimme, sogar im lagenwechsel höre ich keine veränderung. bei allen solisten konnte man den aufwand sehen, den diese kirche bedeutet, der tenor (auf dem bild oben, martin platz) war mit vollem körpereinsatz dabei, der sopran (katja stuber) hatte es am schwersten, das kann aber auch an meinen schlechten ohren liegen. gehört hat man die anstrengung aber nicht, so gut waren sie.
in der reihe vor uns eine alte dame in steppjacke und wollmütze, sie ist aufgestanden und hat sich hin- und hergewiegt bei den arien, ihr mann neben ihr blieb sitzen. vielleicht war es etwas medizinisches, aber es wirkte wie ihr persönlicher umgang mit der musik, wie ein bedürfnis.
ich wollte eigentlich das letzte „oh haupt voll blut und wunden“ noch hören, mit beiden chören, aber die arie des countertenors (nr. 52, können tränen meiner wangen) nahm kein ende, viermal wird sie wiederholt, und wir mussten den letzten zug erwischen. hatte schlechtes gewissen, habe mich nochmal umgedreht, aber das orchester mit solisten schon gar nicht mehr sehen können, so groß ist der raum. mit taxi zur stazione garibaldi, im zug auf dem handy hätten wir die letzte halbe stunde noch als stream sehen können, erst um kurz vor halb zwölf waren sie fertig.
der letzte zug fährt nur bis gallarate, dann müssen wir in so einen kleinen modernen bus umsteigen, mit noch zwei anderen fahrgästen, und fahren noch über einen stunde durch die pampa, 1000 kreisverkehre, der bus fährt jedesmal in eine andere richtung als erwartet, bin total lost, kenne keinen ort in diesem hinterland. um halb zwei im bett, erst heute am karfreitag wieder halbwegs beieinander.
bisher die schönste mp, die ich live erlebt habe, einmal mit guttenberg in der philarmonie, die war effektvoller auf eine nichtbachsche weise, romantischer, das hätte im dom gar nicht funktionieren können. die ist jetzt auf platz zwei gerutscht, mit einigem abstand.
(oh, weblog ist volljährig geworden am 1.4., hab ich verpasst. es ist mir immer noch lieb und teuer, es funktioniert, gibt auslauf und bodenhaftung. ich hab früher so viel schönere texte geschrieben, das ist wohl der lauf der zeit. alles ist eitel.)