50-60kg

im letzten sommer unter den überwiegend schlanken bis mageren italienerinnen meines alters am strand zum ersten mal seit meinen frühen zwanzigern unpassend gefühlt, anders. habe so ein blaues langes leinenkleid für den strand, es fühlte sich nicht mehr elegant und luftig an, sondern raumgreifend bis enorm vor all den t-shirts und engen kleidchen um mich herum. es begann mit einem blick: als jemand einen witz über eine cicciotella machte, sah die freundin mich kurz entschuldigend an, an diesem blick hab ich mich zum ersten mal mit ihren augen gesehen, sie, die man mit drei händen umfassen kann, und war erschrocken. die wertenden kriterien in meiner körperwahrnehmung betrafen in den letzten 30 jahren nur änderbares, friseur ja/nein, nägel manikürt oder nicht, kleidung passend/unpassend oder schön/langweilig. die schönheit es körpers war gegessen sozusagen. mit diesem blick war sie wieder im raum, als dichotomie, ich wurde auffällig, die kategorie ‚gewicht‘ kam damit über mich wie eine mückenplage oder ein quallenkontakt. aus dem nichts. ich hab dann noch am meer drauf geachtet, wie bewußt das thema gehandhabt wird, wie öffentlich es ist (gar nicht), es läuft so mit, das wahren der jugendlichen fasson ist wie das atmen und schlafen, selbstverständlich und leise,  es bedarf keiner kommentare, ist längst verinnerlicht worden, bis der letzte rest appetit weg ist, niemand isst noch etwas, salat und dietcoke füllen die mahlzeiten. ob der körper dadurch dauernd anwesend wird? oder verschwindet er hinter seiner symbolhaftigkeit als erotisches objekt? vielleicht so, wie mein blutzuckerspiegel in meinem bewußtsein herumlungert, ein meßsystem, vor dem ich jede empfindung abgleiche, unterhalb des bewusstseins. der zu dünne körper ist in seinen bedürfnissen zum verstummen gebracht, als symbol spürbar wie eine art halo über dem körper aus fleisch und blut. wie ein geschmeide von bulgari. wie konnte mir das jahrelang nicht auffallen? freundin erzählte gestern davon, wie dünn die frauen überall sind, wie üppige büffets bei veranstaltungen unangetastet stehenbleiben, wie sie nur salate essen, nur noch trinken tun sie, aber weniger als die männer, die darin maßlos werden können. die statur vermittelt vielleicht so eine diffuse zugehörigeit zu denen, die dazu gehören, völlig unberührt von feministischen und historischen diskursen und realitäten. je wichtiger und größer diese frauen beruflich sind, desto kleiner und harmloser sollte ihr körper aussehen, wie eine entschuldigung (das ist ein gemeiner gedanke aus dem sommer, in dem der text entstand, weiß ich, und vermutlich nicht frei von neid). mir ist das in meiner auch beruflichen abgeschiedenheit gar nicht aufgefallen, auch weil mein körper fast immer das ganze ich ist, mit entspannten 70kg, und ich schon ewigkeiten an keinem rennen mehr teilnehme.

es ist anders, es gibt wirklich diese menge an dünnen frauen, erst meine eigene normalgewichtige körperlichkeit bringt mich zum lästern, oder? „bei datingbörsen heißt ’normal‘ immer ‚fett'“, sagte mir neulich jemand. dann lach ich drüber, elegant verschiebt sich mein innerer bewertungsapparat wieder weg vom kriterium wenig gewicht auf die art schönheit, die ich selber sein kann. mein diabetes läßt mich ja eh in einem zahlenkäfig leben, das sollte genügen. maybe baby!

(die frauen nehmen die männliche sehnsucht nach der schmalen maid auf sich, als wäre es nichts, jahrelang, und werden dann irgendwann alte mädchen in einem kosmos traurig trinkender alter männer.)

das urteil trägt man trotzdem herum, es ist ein binärer code, das |false| macht unsichtbar fürs gesellschaftliche begehren (den leise anerkennend nickenden neid), oder für die immaginäre nebenei-selbstbestätigung im schaufenster, das reicht ja schon als stein im schuh. vielleicht nicht fürs sexuelle, but who am I. dünnes eis. es ist müßig, diese kriterien zu kritisieren, sie unterliegen keiner bewußten entscheidung.

die ewige aufgabe der normalen frauen, nicht um schönheit zu trauern. schöner gesagt: Wo mehr ist, muss ich womöglich mehr lieben.

verrückt. (brauche mal wieder ein paar nächte, glaub ich)

edit: grad noch ein strandfoto vom letzten sommer gesucht. auf allen waren gleichviel runde wie eckige frauen zu sehen. wahrheit oder pflicht?

6 Gedanken zu „50-60kg“

  1. Da sag ich mal (mein ganzes Leben lang, mal grollend, aber in den letzten Jahren ungerührt heiter): Ist der Ruf erst ruiniert … Ich kenne kein anderes Leben als die Abweichung von der Norm. Das kann auch irgendwann sehr befreiend sein. Runtergehungert gewesen zu sein, hat mir bei vielen der vermuteten und natürlich ebenso seit jeher verinnerlichten Zuschreibungen auch nix genützt und die Liebhaber angelte ich meist erfolgreich wenn ich in üppigster Variante unterwegs war …

    Danke für den Text.

    1. glaube ich sofort, auch das mit den liebhabern des üppigen. eigentlich sollte die kategorie gewicht keine große relevanz haben, aber manchmal erwischt es einen doch, hat mich selber gewundert. dass du ganz zuhause bist in dir, merkt man dir ja an.

  2. Hm. Die männliche Sehnsucht, die die Frauen auf sich nehmen, nun. Woher nehmen sie diese denn? (Ich vermute ja bei dieser ganzen Antizipation ein einziges riesiges Missverständnis. Oder viele kleine, ich weiß ja auch nicht. Ich hab jedenfalls im umgekehrten Fall keine rechte Idee von weiblicher Sehnsucht. Leider, aber nun.)

    1. das weiß ich nicht. es ist ja auch alles eine unterstellung meinerseits. ich fühlte mich im sommer zum ersten mal nach jahrzehnten zu dick, daraufhin habe ich meiner freundin zugehört, als sie über die mageren frauen ihres umfeldes sprach, statt mit einem lachen drüber hinwegzugehen. ich hoffe, es ist so, wie du sagst, und das gewicht spielt keine verallgemeinerbare rolle in der wahrnehmung von attraktivität. ab 50 werden frauen als erotisierende wesen unsichtbar, außer in italien, wo nicht flirten unhöflich ist. vielleicht ist die beherrschung des gewichts ein unwillkürlicher weg, wieder sichtbar zu werden?

  3. „wo nicht flirten unhöflich ist“ – my kind of context 😉
    Tatsächlich fürchte ich, sind es nicht nur die Männer und ihre Sehnsüchte, die wir uns zu eigen machen. Ganz oft sind es auch die eigenen. Und diese verfluchten Maßstäbe und Schlussfolgerungen, die man immer parat hat. Heute in der Zeit die Bildunterschrift gelesen: „Am Strand sind wir alle Körper. Keiner kann so tun, als sei er nur Geist.“ Ja und wie toll das ist. Und wie herausfordernd für uns Kopfmenschen.

    1. so ist es. ob es meine sehnsüchte sind oder nicht, weiß ich ja genau, sobald ich die verantwortung dafür an jemand anderen übergebe („die männer“) ist alles vermutung, projektion, vages begehren. körper am strand, genau das war es. befremdlich, und ich bin unerfahren darin, zuerst als körper wahrgenomen zu werden, mehr körper als geist zu sein. toll herausfordernd, wirklich, mehr sein als schein. am strand unter freunden wiederum ist das problem nicht vorhanden, da bin ich einfach.

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