2018 kann ich als diabetikerin die steuerung meines stoffwechsels einem algorithmus überlassen, muss das system dafür aber noch alleine zusammensetzen. irgendwann übernimmt das ein kleiner implantierbarer blutzuckersensor, der die insulinzufuhr durch meine insulinpumpe alleine regelt, selbstlernend und wasserdicht. bis dahin macht es das internet.
die menge an insulin, die wir brauchen, ist sehr wandelbar. der blutzuckerspiegel kann durch einen haufen faktoren erhöht werden und durch einige verringert, bei stress oder wut oder aufregung wird adrenalin ausgeschüttet, das erhöht den spiegel, alkohol kann ihn verringern. andere hormone verändern den bedarf auch, bei frauen östrogen und progesteron. es ist wie ein marionettenspiel, bei dem die länge einzelner fäden und das stück dauernd verändert werden, der patient ist dabei marionette und puppenspieler in einem.
ausgehend von einem alten, für die steuerung von kraftwerken verwendeten programm (lineare modellpräventive regelung) haben diabetiker1 in den letzten paar jahren ein programm entwickelt, das uns die entscheidung darüber abnimmt, ob wir jetzt weniger oder mehr insulin geben sollten. das projekt läuft unter #wearenotwaiting (weil es in den pressemitteilungen über großartige neue heilungswege immer heißt: in 5 jahren frühestens, und man danach nie wieder etwas davon hört) und ist ein open-source-projekt, es wird als offenes nicht proprietäres system mit den erfahrungen seiner vielen nutzer gefüttert, so wie ich das verstanden habe. die initiatoren haben dafür auch einige alte insulinpumpen gehackt, die sich dann durch das programm steuern lassen2.
es läuft entweder auf einem ein-chip-computerchen wie einem rasberry pi oder einem intel edison (intel hat die herstellung leider eingestellt, eine alternative wird grad gesucht), oder in einer app auf dem handy, je nach benutzter pumpe. alte pumpen wie meine, von 2006, haben eher funk. die anfunkbaren brauchen den eddy (kann funken) oder den rasberry, die neueren sind auch über bluetooth erreichbar. das programm gibt dann der insulinpumpe signale wie „weniger insulin“ oder „mehr insulin“ für den zeitraum x, bis mein idealer blutzuckerspiegel erreicht und gehalten wird. die entscheidungen fällt es anhand meiner blutzuckerwerte, die ich über ein cgm-system (continous glucose monitoring) sammele und irgendwie ins programm einspeisen lasse, alle 5 minuten. wenns läuft, ist es ein closed loop, und macht uns also zu loopern.
das tolle an der sache sind die vielen parameter, die ich einsetzen kann. wie lang wirkt mein insulin, 3, 4 oder 5 stunden? wie schnell baut mein körper es ab? wieviel insulin brauche ich zum essen, morgens, mittags und abends? wie hoch ist heute meine resistenz, brauche ich also zur korrektur mehr oder weniger insulin als sonst? der ganze kram läuft in diabetikerköpfen dauernd ab, ein bisschen wie bei einem koch, der sein rezept immer neu zusammensetzen muss. und wenn so ein ordentlicher pasta-pizza-torten-kloß manchmal erst morgens um 4 richtig im blut angekommen ist, lieg ich im tiefschlaf, aber openaps fängt dann die werte auf.
neulich sagte jemand, dass hinter jeder app viel mehr arbeit steckt als ersichtlich, hier sind wir als ein haufen betatester alle von anfang an dabei. ich bin schon die nachhut, die gar nicht coden kann, fühle mich aber an msdos-zeiten erinnert, wo trial and error dazugehörten und das funktionieren nur eine option unter anderen war.
gestartet bin ich über die wunderbar gehaltenen anleitungen im netz, deren größter vorteil die methode idiotensicher und c/p ist. sogar das drücken der enter-taste wird erwähnt, was sehr hilfreich ist, wenn man keinerlei ahnung hat. auf github habe ich ja am anfang nichtmal die verben und substantive verstehen können, inzwischen habe ich eine ungefähre ahnung, mehr nicht, aber hey, es funktioniert. das programm selber wird dauernd aktualisiert, er wird ständig angepasst und weiterentwickelt, inzwischen kann man sogenannte microboli geben, also insulin in sehr kleinen dosierungen, wenn bestimmte kriterien erfüllt sind, das programm kann die basalrate meiner pumpe überprüfen und korrekturen vornehmen bzw. vorschlagen. weil ja jeder körper eigene bedürfnisse hat.
ich verwende das system seit 2 monaten, davon lief es vielleicht 2 wochen, nicht durchgehend. an seiner peripherie liegen die blutzuckersammelmethoden, die auch alle einen selbstgebauten teil haben. viele daten müssen da dauernd wandern, deshalb hakt es häufiger mal, da ist eine bluetooth-verbindung unzuverlässig, oder der wechsel zwischen wlan und g3 klappt nicht, oder man ist in brandenburg, oder hat einen haken in einer der apps falsch gesetzt. die bausteine fürs cgm sind anfällig für fehler, und die syntax für das openaps hat auch bugs, oder ich hab irgendwas falsch copypastet. wenn es nicht lief, mußte ich früher immer das ganze system neu aufsetzen, inclusive handy-reset. jetzt frage ich auf gitter oder facebook direkt bei den entwicklern nach, schildere mein problem so deutlich wie möglich, durch kopieren der diversen logbücher, und erhalte meistens in kurzer zeit von irgendwo auf der welt hilfe, die ich nach längerem nachdenken auch verstehe. nach einigen tagen hatte ich den wirklich befriedigenden eindruck, die welt bestünde aus diabetikern.
die zahl der downloads der verschiedenen typen an closed-loop-software hat sich in den letzten wochen verdoppelt auf ca. 1000, in deutschland sind wir um die 50-70, das sind noch nicht so viele, aber es fühlt sich in der szene schon ein bisschen nach einem hype an. ich merke den diy- anteil daran sehr deutlich, je mehr coder an einem teil des systems beteiligt waren, desto sicherer und runder läuft es, es ist wie ein ameisenbau mit vielen spezialisten, man meint das vergnügen zu spüren, das programm so komplex wie nötig gestalten zu können, and then some. beim anpassen der hard- und softwareteile bleibt oft kein stein auf dem anderen. es geht schnell und die leute sind gut.
die verwendung der aps-systeme ist 2018 noch eine juristische grauzone, ein diabetologe darf die sache nicht weiterempfehlen oder bewerben, er kann nur darüber informieren. find ich doof, schließlich sind wir es gewohnt, verantwortung über sämtliche therapeutischen maßnahmen alleine zu tragen, inclusive der menge an insulin oder kohlenhydraten, die wir uns geben. der minipankreas wird ja vom benutzer ans seil gelegt, er darf unter anderem nur bis maximal x einheiten insulin dazugeben, und so weiter. im nebeneffekt muss ich meinen stoffwechsel noch einmal sehr genau analysieren und dokumentieren, als grundlage für das programm, weiß also mehr über mich und nicht weniger, wie man ja bei automatisierungen annehmen könnte. und es macht spass.
1 die ersten waren 2015 dana lewis und scott leibrand, beide immer noch sehr aktiv dabei. in d hat saskia wolf das loopen in bewegung gebracht.
2 in der pumpentherapie wird die für den grundbedarf des körpers täglich benötigte insulinmenge basalrate genannt. der bedarf ist je nach tageszeit verschieden hoch, und ist für jede stunde oder halbe stunde in die pumpen programmierbar. alles, was ich zum essen brauche, gebe ich als bolus in die pumpe ein. wenn man mal wegen hormonen oder krankheit oder party oder what not mehr oder weniger insulin über einen längeren zeitraum benötigt, stellt man sich eine temporäre basalrate ein. auf die steuerung dieser temporären basalraten hat das programm zugriff.
Wieder etwas gelernt… Ich war bis Ende 20 sehr asthmatisch, da hat man den Inhalator zur Hand und gibt sich einen Hub, wenn es denn sein muss (okay, das Kortisonspray auch dreimal am Tag). Manchmal funktionierte das Ding aber auch einfach nur wie eine warme Decke.
Da ist das bei Ihnen doch etwas komplexer. Und was wären wir nur ohne dieses Internet…
ohne das internet wäre eine so fachkundige betreuung nicht möglich, das stimmt. internet ist gold für diabetiker.
die warme decke glaube ich ihnen, wenig fühlt sich so unmittelbar bedrohlich an wie atemnot.