3. oktober 2020

1987/88, als ich zurück nach berlin zog, hat mich der osten nicht interessiert. er war weiter weg als der ostblock, er war fremd, und es bestand keine aussicht, diese fremde vertraut zu machen, niemand wollte das, es war das große andere, und das würde so bleiben. die mauer stand für immer, daran muss ich denken in diesem schlimmen 2020, und versuche gar nicht erst, mir vorzustellen, was noch alles passieren könnte.

berlin war für mich westberlin, geburtsstadt, unistadt, aufregende kulturhauptstadt. in italien haben wir nichts gelernt über die ddr, die italienische linke war der ddr eher wohlgesonnen, aber niemand wusste genaues. meine klassenfahrten gingen nicht nach berlin, sondern irgendwo ans mittelmeer, nach neapel, und nach camogli bei genua, mit der besten foccaccia der welt.

ich habe zwei dicke smemorandas aus der zeit, ’87 und ’88, habe noch mal reingelesen, leider keine tagebücher von ’89. eine seite über die erste party bei franziska, in ostberlin, ich war begeistert von ihr, bisschen verzaubert, unsicher, mir fiel auf, dass die gäste schicker angezogen waren, dass ich ein bisschen herumstand, ich hab aufgeschrieben, dass die gastgeberin ziemlich früh ihre party verließ, um zigaretten zu holen, und erst um 23:30 wiederkam, als ich losmusste, was ich bedauert habe. sie war die freundin einer ostberliner cousine meiner besten freundin, habe sie auf einem tagesausflug mit der freundin kennengelernt und war ein bisschen am haken. die besuche waren eher abenteuer, wir hatten früchte und zeitschriften dabei, die manchmal an die grenzbeamten gingen, manchmal nicht. ananas, und ich meine mich an die mischung aus arroganz (ananas!) und unsicherheit (kommunisten stehen da drüber) zu erinnern, wenn wir die herzeigten am übergang. von den 25 mark zwangsumtausch haben wir uns meistens bücher gekauft, shakespeare-gesamtausgabe, hermann kant, anna seghers, weil man in den caffees nie mehr als ein paar mark loswerden konnte. im intershop war ich auch paarmal, fällt mir ein! da ging das geld schneller weg. habe nichts aufgeschrieben über die grenzübergänge, oder über den tränenpalast, die grenzkontrollen etc., die waren eben lästig, und über die schlange an der grenze am brenner oder so hab ich ja auch nie etwas geschrieben.

ein besuch war besonders, weil ich die freunde in einem wochenendhaus in klein-venedig besucht habe, in einem käfer cabrio mit italienischem kennzeichen, in dem ich damals herumfuhr, und die stadt eigentlich nicht verlassen durfte als tagesgast. es gab kuchen, es war ein normaler besuch bei leuten an einem wochenende, es gab einen mann, den ich interessant fand, ich erinnere mich nicht daran, dass die mauer und die ddr thema war, wobei halt, ab wann durfte ich denn mit dem auto in die ddr fahren, war das nicht nach mauerfall? weiß ich nicht mehr, nur, dass ich über die grenze bornholmer strasse eingereist bin, innerstädtisch.

franziska kam jedenfalls irgendwie und irgendwann im sommer ’89 mit der bitte heraus, einen ihrer freunde zu heiraten, der unglücklich war und in den westen wollte, ich hab mich informiert, es gab diese anwälte am kudamm, die mir helfen wollten, ich musste nicht einmal hingehen, anruf genügte, und der apparat fluchthilfe ist angerollt, mit einer gewissen routinierten bürokratie. mir wurden eine reihe von infoblättern zugeschickt für die vorbereitung eines heiratsantrags, zu stellen an die ddr natürlich, nicht nur an den partner, mit empfehlungen, wie viele briefe und besuche nötig waren, um einen anschein von glaubwürdigkeit aufrechtzuerhalten. roger, der mann, war freundlich und eher still, der aufwand war ihm unangenehm, es waren die freunde, die sich sorgen gemacht haben um ihn und ihm helfen wollten. ich glaube, er konnte nicht studieren, was er wollte, aber ich weiß es nicht mehr, ich kannte ihn ja gar nicht. er hat keine perspektive für sich gesehen, kein mögliches glück, es waren die jahre, wo die situation in der ddr noch bleiern und statisch war, obwohl unter der oberfläche alles schon auf ein ende hinzustürzen schien, ich hab das aber nicht bemerkt damals, ich habe es später nachgelesen. die infoblätter tragen einen stempel vom august 1989, damals war der bruch schon im gange, ungarn hat ein paar hundert ddr-bürger ausreisen lassen, aber der weg dahin erforderte noch die bereitschaft, alles hinter sich zu lassen, familie, freundschaften, besitz, für immer. es war noch nicht vorstellbar, einfach auszureisen, im sinn von: legal ausreisen, schon aus angst um die familie, um die dableibenden. rausheiraten war eine alternative dazu, als westlerin hätte ich unterschreiben müssen, dass ich mich auch in der ddr ansiedeln würde, aus liebe, ich so beim lesen: hmm. ich weiß nicht, wie es dann weitergegangen wäre, ein paar monate wurden aber angesetzt, um die behörden zu überzeugen, da hätte ja jeder kommen können. ich habe glaube ich noch ein paar briefe geschrieben und war einmal noch drüben, um roger zu besuchen, aber ich erinnere mich nicht mehr genau dran. vielleicht auch nicht. wir hätten die ehe sofort nach seiner ausreise zum vom staat subventionierten sonderpreis von 1000DM scheiden lassen können, annullieren ging glaub ich nicht, und natürlich hab ich alte romantikerin darüber nachgedacht, ob ich mich eventuell in ihn verlieben könnte, wo er doch seine freundin sowieso nicht hätte mitnehmen können. dann fiel die mauer und ich hab ihn nie wiedergesehen.

ps: wollte die beziehung pci/ddr googeln und bin dabei auf die geschichte von benito corghi gestoßen: der arme mann war lkw-fahrer und sollte eine ladung schweinefleisch aus cottbus nach italien transportieren. ihm fehlte eine erlaubnis an der grenze, die grenzer haben ihm die durchfahrt verweigert, er wollte zu fuss die paar hundert meter vom lkw zur grenze zurücklaufen, um das papier zu besorgen, die beamten haben ihn nicht erkannt, er hat ihre warnrufe nicht verstehen können und wurde daraufhin erschossen, hinterrücks, mit drei schüssen in den rücken. 1976.

edit: auch eine heirat in den westen war eine ausreise und hat familien zerrissen, und wer einmal ausgereist war, durfte meistens nicht einmal für einen besuch zurückkommen. bei der bundeszentrale für politische bildung gibt es einen bericht darüber. noch ’89 haben 50000 menschen eine ausreisegenehmigung bekommen.

6 Gedanken zu „3. oktober 2020“

  1. Einer meiner Großcousins hat 1984 die Freundin einer meiner anderen Großcousinen aus der DDR herausgeheiratet. Sie gründeten vier Jahre später tatsächlich auch eine Familie und bekamen zwei Kinder. Als die Anfang dieses Jahrhunderts ins Teenageralter kamen, traf sie ihre Jugendliebe wieder, verließ vor etwa 15 Jahren die Familie und ging zurück in den Osten. Hat meinen Großcousin tief getroffen. Ich erinnere mich noch daran, dass er beim Familientreffen 2010 überhaupt nicht gut auf sie zu sprechen war. Dabei hatte er zu dem Zeitpunkt bereits die Frau kennengelernt, mit der er nun schon seit einigen Jahren glücklich verheiratet ist. Was aus ihr wurde, weiß ich nicht.

    Die Großcousine hatte ihn damals darum gebeten und die beiden bekannt gemacht. Wenn ich die wenigen Bruchstücke, die ich weiß, richtig verstanden habe, hatte die Stasi die Freundin zusammengeknüppelt. Deren Bruder saß bereits in irgendeinem Stasi-Knast, deshalb wollte und musste sie raus aus der DDR.
    Der jüngere Bruder jener Großcousine wollte später auch aus der DDR fliehen mit Hilfe des Onkels, dem in den 1960ern die Flucht über die Mauer geglückt war. Weil der aber eine Autopanne hatte und nicht am vereinbarten Treffpunkt in Ost-Berlin erschien, wurde daraus nichts. Zum Glück, sie wären aufgeflogen. Stattdessen stand er spät in der Nacht bei seiner Schwester vor der Tür. Die wusste von dem Fluchtplan und dachte deshalb erst, die Stasi klopfe an. Die jüngere Schwester der beiden landete dann im Oktober 1989 während der Proteste in Dresden für einige Tage im Stasi-Knast.

    Ich habe mal jemanden getroffen, die bekam ihre Ausreisegenehmigung am 9. November für den nächsten Tag. Sie und ihre Familie sind dann auch tatsächlich in den Westen.

    Vom Schicksal Benito Corghis wusste ich nichts. Der arme Mann und seine arme Familie.

  2. beim lesen gedacht, dass die mauer fast 30 jahre gestanden hat, und dass die verbindungen von familien mit etwas glück 3 generationen umfassen können, also 60 bis 80 jahre. unvorstellbar, was da alles an banden zerstört und unterbrochen wurde, wie schön, wenn die familie nach 20jähriger trennung in den achtzigern noch eine zusammenführung hinbekommen hat, unter schwierigsten bedingungen. die geschichte mit der ausreisegenehmigung am 9. november ist filmreif, der antrag als endpunkt einer entwicklung, hinter den man nicht mehr zurückwill, auch wenn der grund dafür sich auflöst.

    1. Ich glaube, es handelt sich um ein Missverständnis. Meine Verwandtschaft mütterlicherseits ist sehr weitläufig, denn meine schlesische Urgroßmutter hatte sechs Kinder, eins starb drei Monate nach der Geburt. Da ihre fünf Kinder wiederum fast alle auch fünf Kinder hatten, die wiederum fast alle drei oder mehr Kinder haben, habe ich haufenweise Großcousinen und Großcousins (zwei davon – keine Brüder – starben durch den Tsunami in Thailand).

      Während die zwei älteren Schwestern meiner Großmutter genau wie sie im Westen waren, lebten ihre zwei Brüder, beides Ärzte, mitsamt ihren Kindern in der DDR. Vier Cousins meiner Mutter gingen aber noch vor dem Mauerbau in den Westen bzw. nach West-Berlin – als Akademikerkinder hatten die in der DDR keine Perspektiven. Deren jüngster Bruder wurde mit Anfang 20 aus dem Gelben Elend in den Westen verkauft. Er hatte Fluchtpläne gehegt und war an die Stasi verraten worden. Vom jüngeren Bruder meiner Großmutter flüchtete ein Sohn nach dem Mauerbau über die Mauer (weil auch er als Sohn eines Arztes nicht studieren durfte). Dessen drei Geschwister mitsamt Nachkommen blieben bis zum Mauerfall in der DDR. Eine davon war jene Großcousine, die einen unserer anderen Großcousins fragte, ob er ihre Freundin aus der DDR herausheiraten würde.

      Der ehemalige Stasi-Häftling zog Anfang der 1990er mit seiner Familie wieder nach Sachsen, er war Anwalt und Notar. Sein seinerzeit ebenfalls junger Stasi-Vernehmer übrigens auch, dem ist er noch einige Male beruflich begegnet.

      Stimmt, das mit der Ausreisegenehmigung ist filmreif. Und sie schreibt seit einigen Jahren auch sehr erfolgreich Drehbücher.

        1. Leider kenne ich die Geschichten meistens auch nur bruchstückhaft. Die Verwandtschaft sehe ich nur auf dem risigen Familientreffen alle zwei Jahre, wobei es dieses Jahr ausfiel und sich ein großer Zweig ohnehin inzwischen ausgeklinkt hat und eigene Treffen verantaltet. Jener Cousin meiner Mutter machte Mitte der 1990er auf einem Familientreffen auch eine Führung durch das Gelbe Elend, aber da waren wir leider nicht dabei. Inzwischen kann ich ihn auch nichts mehr fragen, da er im Frühjahr 2019 nach langer Krankheit gestorben ist. Ich habe es auch nur zufällig mitbekommen, weil ich nach ihm googelte und auf viele Traueranzeigen stieß.

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