pollesch: aufstieg und fall eines vorhangs

die volksbühne ist wieder offen, ihr neues logo ist eine grobpixelige und knallbunte darstellung des alten logos, das es ja nicht mehr gibt, auf dem platz vorm theater steht jetzt ein zirkuszelt, gestern war es zu, aber es steht als zusätzlicher veranstaltungsort im programm. der zirkus vielleicht auch als sehnsuchtsort, wo die illusionen noch tragen, die wünsche einfach sind, wuttkes kostüm ist eine gute mischung aus zirkusdirektor und theaterpunk mit totenkopf-shirt. und ich sitze mit freundin a. oben im rang, die plätze neben uns sind mit bändern hochgebunden, wenn man nicht aus dem selben haushalt kommt, echt aufwändige vorbereitung. wir machen die bänder auf.

martin wuttke und katrin angerer auf der bühne, sie spielen mit theaterformen, das publikum im raum als ein freies element, von den schauspielern mal dargestellt, mal umworben. in der ersten szene sehen wir angerer und wuttke als regisseur und schauspieler (glaube ich, es war kein klares bild), wie sie einen kartentrick ausführen wollen, miteinander und also mit uns, dann zieht wuttke immer die falschen karten (aus einem programmzetttel: „also kommen sie, ziehen sie eine karte! … nein! das ist mein rezept für dingsda. sie vertun sich aber auch ständig. sie sollen doch eine karte ziehn.“) das ist ziemlich lustig und sehr pollesch. die szene endet mit einer waffe, aber es stirbt keiner. die vier personen auf der bühne (susanne bredehöft und margarita breitkreiz sind die anderen beiden) zeigen uns durch den abend immer wieder die instrumente, die dialoge sind schnell und wechseln mühelos die ebenen, ernst, albern, oder „kubistisch“; wie wuttke einmal ruft, als 3d-figur zusammengesetzt aus meinetwegen rolle, schauspieler und theatertheorie, alle ebenen gleichzeitig. ich weiß es aber nicht genau, wer jetzt gerade als was auftritt, es ist auch nicht entscheidend, alles fließt, wie bei pirandellos 6 figuren, die einen autor suchen, aber das ist halt 21. jh., da steht das ganze theater auf dem spiel, mit im spiel, und es ist nicht mehr klar zu verstehen, was wir voneinander wollen können, publikum und theater, da können sich die theaterleute noch so anstrengen, und dann gibt es doch nur aber immerhin zaubern sie uns ein kaninchen aus dem hut, dargestellt durch einen riesigen echten weißen hasen, der ein paar schritte auf der bühne machen durfte.

viel text, den ich hoffentlich irgendwo nachlesen kann, oder ich geh halt nochmal rein. auf dem programmzettel steht sekundärliteratur, aber da bin ich klassisch orientiert, nach dem stück ist das stück vorbei.

mitten im geschehen der bühnenvorhang, aber als federleichte, leuchtend orangene version seiner selbst, die grenze zwischen uns und dem theater ist beweglich und bei pollesch tanzt sie mit den schauspielern, deckt sie zu, liegt wie ein multidimensionales und bewegliches objekt mal vor, mal hinter, mal auf den menschen auf der bühne. in einer szene zwingt angerer als dompteuse den vorhang in die höhe, um die bühne freizugeben, mit so einer art psychedelischer peitsche aus dem gymnastikkurs, das war mein liebstes bild.

am ende gab es noch einen epilog von wuttke, da hab ich leider nicht mehr richtig aufgepasst, aber es ist keiner gestorben, anders als bei pirandello, wo am ende alle auseinanderlaufen und nichts mehr mit dem theater zu tun haben wollen. großes yeah-gefühl bei der freundin und mir, es geht weiter, es gibt wieder spannendes theater, wir dürfen schauen und denken und bisschen glücklicher nach hause gehen.

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der rest ist musik

neulich beim lcb-fest die freude über diese art von berlin verspürt, mit büchern, menschen, zuhören und reden, sehen und gesehen werden. der herbst bleibt hoffentlich weiterhin so offen, der ganze kulturelle alltag hat wahnsinnig gefehlt im viel zu langen letzten jahr, in dem man sich so von spaziergang zu spaziergang schleppt, und am ende nicht mal mehr über kultur redet, also wir nicht, die anderen bestimmt alle, aber wir eher nicht, es gab höchstens mal ein oder zwei empfehlungen, aber alles für sachen aus dem vorletzten jahrhundert.

zur ersten lesung nach corona bin ich ende august mit einer freundin ins pfefferwerk gegangen und habe manfred maurenbrecher und jim rakete zugehört, wie sie sich döntjes aus den achtzigern erzählen und maurenbrechers neues buch „der rest ist mut“ vorstellen, „übers liedermachen in den achtzigern“. die beiden sind sich im studio bei maurenbrechers erster plattenaufnahme über den weg gelaufen, beide in den ersten jahren eines lebens mit, von und für die musik, jeder auf eigenen wegen ins große netzwerk. maurenbrecher hat nach seiner promotion gemerkt, dass er doch eher auf die bühne gehört, hat lieder geschrieben und sich eine band gesucht. ich weiß nicht, ob das früher einfacher oder schwieriger war, es liest sich so, als hätte der wunsch schon fast gereicht, und das einfach machen, dann kennt der den, und die passenden leute finden sich auf parties, bei konzerten, in studios und an den vielen orten, die berlin dafür bietet, zumindest in den achtzigern geboten hat. aber es hilft sicher, so genuin dafür begabt zu sein.

mochte es, wie bei dem ganzen wilden leben mit tourneen und tv-auftritten und wirklich sehr vielen leuten, von denen man manche sogar noch kennt, es ist ja auch erst 40 jahre her, 40 kleine glitzernde perlen in der lebenskette, wir legen sie uns einfach mehrfach um den hals, das war gefühlt gestern – also: wie im buch ganz viel ruhe bleibt, um zb über die liebe zu schreiben, ganz zurückhaltend, und wie sie ihren weg in manche lieder gefunden hat. hab gern über die entstehung einzelner lieder gelesen, herr maurenbrecher hat sie mal allein, mal mit anderen geschrieben, ein geben und nehmen, finde es faszinierend, wie selbstverständlich das bei einem klingt, der eben zuhause ist im liedermachen. und wie es von den einfällen dann weitergeht in die konzentration und sorgfalt beim zuendeschreiben.

das ganze buch liest sich sehr organisch, wie mitgeschrieben, als würde es gerade jetzt geschehen, oder grade erst gestern, jede seite neu, bei jedem konzert ist wieder alles offen, ob es gelingt, ob die leute es mögen und sich freuen, oder ob nur ein paar kommen, und wie sich über serendipity und andauerndes musikmachen und -schreiben ein richtiges lebenswerk entwickelt.

beim lesen ist die freude darüber spürbar, es ist außerdem ein sehr kluges und freundliches buch geworden, auf eine altmodische art freundlich. die achtziger wirken darin wie ein abgeschlossener kosmos, in dem die mauer noch für immer stand, bis zu dem moment, wo sie eben nicht mehr stand, dann hört das buch auch auf, obwohl ich grad so schön drin war in den geschichten übers musikmachen. gern gelesen.

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last sommerfest 2021

einen echten höllentrip mit dem auto zum lcb gemacht, mit umweg zu frau engl, die ich abholen wollte. erst paar staus, dann eine demo, dann weitere staus, dann eine weile stillstand. über 2h im auto gesessen für die strecke nach neukölln. helga schubert verpasst, die hätten wir gern gesehen. dann ein autor, der sich wach und wendig in seinem thema bewegt, geschichte europas über drei familiengeschichten, uns war nicht so nach richelieu, aber der vortrag war sehr faktenreich und irgendwie freudvoll, das war nett. es folgten drei autorinnen mit geschichten, bei denen der geist ins wandern kam, über schicksalsschläge, die ich nicht verstanden habe, eine szene mit einer fußpflegerin, die in ihrem beruf nicht glücklich geworden ist, im gespräch mit der hauptfigur, die wohl keine gute mutter war, anders als die fußpflegerin, wir als mütter im publikum wurden vorher aufgerufen, die hand zu heben, wenn wir eine mutter haben oder eine mutter sind. nicht alle haben die hand gehoben, immerhin, immerhin. wiederholt haben die moderatorInnen erzählt, wie berührt sie waren von den büchern, gradezu umgeworfen wurden, niedergestreckt ins mitgefühl, besonders die eine szene, wo ein verstorbener („toter“) vater seinen söhnen einen zettel hinterlässt, auf dem steht: an meine söhne. wir so: hmm? (halt, das letzte war aus dem buch von einem mann, alex schulmann, die überlebenden). das hat sich alles nicht so erschlossen leider, auch die auswahl der vorgelesenen stellen hatte wohl verborgene gründe. ein guter, funktionierender text war dabei, über hoden und helden (zitat von j.-u.), die heldenbilder von baselitz spielten eine rolle. von lukas rietzschel, den werde ich weiterlesen. lustig war auch, wie aus den noch nicht erschienenen büchern die schlüsselszenen nacherzählt wurden, nicht vorgelesen, was die schriftstellerei vom joch der poetik, des stils, und allgemein des literarischen talents befreit, eine echte demokratisierung. oder gibt es da eine schweigepflicht vor veröffentlichung? es war so rätselhaft wie lustig. ist vielleicht auch eine feuerprobe, wenn ein text die nacherzählung aushält, ich hab wohl einiges verpasst in der literarischen szene. den hang hoch und runtergewandert, brezel geteilt mit frau engl, frau gaga und paar freunde getroffen. ins grüne, sehr grüne wasser geschaut, am ende im letzten sonnenlicht gesessen und herrn schulze zugehört, mit diesem befreienden gefühl, wenn der ganze kopf für einen text gebraucht wird, ich mich konzentrieren darf und das gerne tue, weil die stellen eine gewisse schnittige eleganz haben. und bisschen schönheit. zweiter text, den ich gerne ganz lesen möchte.

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