5. april 2023, matthäuspassion im dom

früher konnte man einfach reingehen in die kirche, die tür stand immer offen, wie meine freundin a. sich erinnert hat, im innenraum stehen die kirchenbänke in der breite für 4 personen in blöcken hinter- und nebeneinander, meine karten sind für die navata centrale, die ersten paar reihen sind abgegrenzt, bestimmt für die honorationen, sonst ist alles demokratisch offen, wir sitzen weit vorne. fassungslosigkeit angesichts der höhe dieses kirchenschiffs, die mächtigen pfeiler voller figuren, es ist alles so auf überwältigung ausgerichtet, und es funktioniert natürlich, es ist ja eine biophysische reaktion.

zur info: im mailänder dom wird jedes jahr abwechselnd eine der beiden bach-passionen aufgeführt, in der osterwoche, man kann die karten ungefähr eine woche vorher auf der webseite online buchen. sie kosten nichts. in der osterwoche wird die jeweilige passion auch noch zwei oder dreimal im konzertsaal des orchesters aufgeführt, dafür muss man tickets kaufen.

matthäuspassion im mailänder dom, 5. april 2023, orchester und 2 chöre
foto: arianna geith

es gibt ein programmheft mit dem vollen text auf deutsch und italienisch, sehr angenehm, es fehlen bloss so kleine displays auf der rückseite der sitze, die hülfen bestimmt auch bei den lateinischen messen, die da immer noch gelesen werden. wir sind früher in der sommerhitze manchmal reingegangen, ich fühle mich in diesem monsterdom sofort allein, irgendwie vereinzelt durch den leeren raum, die kühle wie etwas, das man empfängt, auch gestern kam die kälte im lauf des abends langsam von oben herab und lief den rücken hinunter. so etwas wie eine gemeinschaft der gläubigen ist nicht spürbar, es bist nur du, tief unten und kaum sichtbar. bin sehr froh, dass zwei freundinnen mitgekommen sind, ich hatte tickets über, dann ist noch bisschen anker zur gegenwart und zur alltagsperson, die ich meistens bin.

und dann kommt die musik und … nein, erstmal kommt ein mensch der kirche und erzählt von der tradition dieser konzerte, dann kommt ein dottore und hält einen bestimmt 15minütigen vortrag über die passion, ein brillianter und guter vortrag, der sofort vergessen ist, als die vorführung dann endlich beginnt.

es dauert ein paar takte, bis ich dabei bin, aus planung und aufwand und allem, auf der kirchenbank im hier und jetzt. die stimmen sind klar und schön, es gibt einen kinderchor (voci bianche, weiße stimmen heißen die auf ital.) und den chor la barocca, sie sind richtig gut, der riesige raum des doms liefert von allen seiten ein weiches und flüssiges echo, tiefgang und körper, wie ein riesiges instrument, es vertieft und intensiviert den klang, es ist kein hall wie befürchtet, es klingt wie eine zusätzliche dimension, ein paar sekundenbruchteile nach dem ton, die stimmen und instrumente wie ein feiner wellenkamm auf dem klang des riesigen kirchenraumes, man badet darin, und es trägt.

matthäuspassion im mailänder dom, im bild der tenor martin platz
foto: arianna geith

am liebsten mochte ich diesmal ein rezitativ, tenor mit begleitchören (nr. 19, o schmerz, hier zittert das gequälte herz!), ganz überraschend, das ist mir beim cd-hören nie aufgefallen, durch den großen raum ist der dialog zwischen stimme und chor perfekt auf eine weise, die überall sonst anders klingen wird. das erbarme dich vom countertenor ist natürlich auch zum steineschmelzen, eine körperlose und klare stimme, sogar im lagenwechsel höre ich keine veränderung. bei allen solisten konnte man den aufwand sehen, den diese kirche bedeutet, der tenor (auf dem bild oben, martin platz) war mit vollem körpereinsatz dabei, der sopran (katja stuber) hatte es am schwersten, das kann aber auch an meinen schlechten ohren liegen. gehört hat man die anstrengung aber nicht, so gut waren sie.

in der reihe vor uns eine alte dame in steppjacke und wollmütze, sie ist aufgestanden und hat sich hin- und hergewiegt bei den arien, ihr mann neben ihr blieb sitzen. vielleicht war es etwas medizinisches, aber es wirkte wie ihr persönlicher umgang mit der musik, wie ein bedürfnis.

ich wollte eigentlich das letzte „oh haupt voll blut und wunden“ noch hören, mit beiden chören, aber die arie des countertenors (nr. 52, können tränen meiner wangen) nahm kein ende, viermal wird sie wiederholt, und wir mussten den letzten zug erwischen. hatte schlechtes gewissen, habe mich nochmal umgedreht, aber das orchester mit solisten schon gar nicht mehr sehen können, so groß ist der raum. mit taxi zur stazione garibaldi, im zug auf dem handy hätten wir die letzte halbe stunde noch als stream sehen können, erst um kurz vor halb zwölf waren sie fertig.

der letzte zug fährt nur bis gallarate, dann müssen wir in so einen kleinen modernen bus umsteigen, mit noch zwei anderen fahrgästen, und fahren noch über einen stunde durch die pampa, 1000 kreisverkehre, der bus fährt jedesmal in eine andere richtung als erwartet, bin total lost, kenne keinen ort in diesem hinterland. um halb zwei im bett, erst heute am karfreitag wieder halbwegs beieinander.

bisher die schönste mp, die ich live erlebt habe, einmal mit guttenberg in der philarmonie, die war effektvoller auf eine nichtbachsche weise, romantischer, das hätte im dom gar nicht funktionieren können. die ist jetzt auf platz zwei gerutscht, mit einigem abstand.

(oh, weblog ist volljährig geworden am 1.4., hab ich verpasst. es ist mir immer noch lieb und teuer, es funktioniert, gibt auslauf und bodenhaftung. ich hab früher so viel schönere texte geschrieben, das ist wohl der lauf der zeit. alles ist eitel.)

leipzig, mp

mit frühem zug los, die pension nimmt erst ab 14 uhr auf, also bin ich dann noch ein paar stunden durch die stadt gelaufen, was ich in fremden städten sowieso immer am liebsten mache. an der nikolaikirche gleich vorbeigekommen, sobald ich drin war, rief der g.-zwilling an, zum telefonieren brav rausgegangen, mit ihm verabredet und danach noch eine führung durch die kirche mitgemacht, bei der ich einfach so mitlaufen konnte. der schwerpunkt der führung lag auf dem widerstand gegen die ddr, der in der kirche begann, sehr schön erzählt, viele kommen wohl auch hauptsächlich deswegen dorthin. mich hat die kirchengeschichte mehr interessiert, johann sebastian bach hat da 1723 seine stelle als kantor angetreten, hat in den ersten beiden jahren wöchentlich kantaten geschrieben, eine nach der anderen. eine zeitlang vorgenommen, den kindern jeden sonntag die passende kantate vorzuspielen, aber wie es so geht, es kommt dann anders.

mit dem g. weiter in die thomaskirche. ich wusste nicht, dass bach dort begraben liegt, hatte dann ein fangirl-herzflattern an der großen schwarzen platte im altarraum. es gibt auch einen fanshop, ein glaskasterl zwischen kirche und thomanerhaus. vor der kirche war ich mit gregor im buchhandel, er suchte ein buch von 50 cent, fühlte mich deshalb voll berechtigt, ihn in den fanshop von bach mitzunehmen. kugelschreiber, aufkleber, tshirts, kaffeetassen. ich hätte alles kaufen können, war aber brav, habe trotzdem 35€ dort gelassen für irgendwelchen pipifax, inclusive der playmobilfigur von jsb. überall im zentrum hört man bach, strassenmusikanten spielen bach, in den cafés läuft bach, mir kam die welt plötzlich als friedlicher ort vor, bis der g.-zwilling zu recht darauf hinwies, dass es ja auch noch andere komponisten in leipzig gegeben habe, mendelssohn bartholdy, die schumanns, grieg, mozart war dort, mahler, richard wagner wurde in leipzig geboren, was ich auch nicht wusste vorher. heute teilt der g.-zwilling noch mit, auch karl liebknecht sei in leipzig geboren, nur ein paar häuser von seiner wg entfernt. am haus griegs sind wir vorbeigelaufen, es steht eine kleine statue im garten, aber die statue bachs ist natürlich um einige meter größer. stelle mir vor, wie all diese komponisten eigene fanclubs unter den honoratioren der stadt haben, die sich dann um gelder, museen, veranstaltungen und feierlichkeiten balgen.

selbstverständlich ist nichts auf der welt so schön, so perfekt, so etc. wie die matthäuspassion, weil. und sie wäre fast in vergessenheit geraten, wenn nicht der sehr junge mendelssohn bartholdy sie hundert jahre nach der ersten aufführung und 70 jahre nach bachs tod zu ostern 1829 das erste mal wieder aufgeführt hätte, und sie damit zum teil der moderne hat werden lassen. heinrich heine, friedrich schleiermacher und hegel waren teil des illustren publikums an diesem abend, das erinnert bisschen an das foto mit delon, faithful und jagger nebeneinander auf demselben sofa.

dann höre ich ein bisschen zu und bin sofort wieder drin. sie beginnt ja mit dem verrat, keine lebensgeschichte, keine bergpredigt, wir werden gleich ins zentrum der osterpassion geworfen, und sein opfer weiß es alles schon vorher. die trauer, wenn sie singen ach, nun ist mein jesu hin!, als er abgeführt worden ist nach dem verrat von judas. jesus schweigt zu lügen stille, antwortet nicht auf die vorwürfe, und bittet um geduld, wenn mich falsche zungen stechen (tick zu inbrünstig mit wunderlich, aber classics go!). ob er gottes sohn sei, fragen ihn die priester, er bestätigt und das wars dann, er wird zum tode verurteilt, in einem leichten, kurzen und etwas hämischen chörchen, man hört, es kostet sie nichts, kein nachdenken, keine überlegung, sie tun es einfach. es folgt das wunderschöne wer hat dich so geschlagen, obwohl du nichts getan hast, fragt der chor. petrus verrät ihn derweil ein weiteres mal, ob er ihn denn kenne, wird er gefragt, nein, sagt er, jesus? nie gehört. mittlerweile ist es nacht geworden, dann wieder morgen, und petrus erinnert sich an die prophezeihung, er würde jesus dreimal verraten haben, ehe die sonne wieder aufgeht. ihm wird anders, er weint, und während man noch zweifelt, ob man ihm denn jetzt noch glauben könne, planiert bach mit erbarme dich jeden zweifel. da sitzt man dann und verzeiht einfach allen und allem und jedem, für diese paar minuten. das muss man erst mal 294 jahre lang schaffen.

schall und rausch. inzwischen wirft der reuige judas den hohepriestern das geld wieder hin und bittet in der einspielung der chapelle royale (ich glaube, es singt peter kooy) fast freudig: gebt mir meinen jesum wieder! (leider nirgends online gefunden, lieblingsaufnahme von 1985, hier eine weniger leichtfüssige, aber auch bisschen tänzerische version von viel später, mit mertens bei ton koopman), und dabei schon erleichtert klingt, weil er einen schritt in die busse getan hat, oder bei karl richter sehr bestimmt und fordernd, als sei es sein recht. bei bach kommt dann als antwort ein tröstliches und leises „befiel du deine wege„, auf die melodie vom schlager der passion, der erst später mit allen stimmen gesungen wird, wenn jesus zum kreuz gehen muss, „o haupt voll blut und wunden„. erstmal bieten die hohen richter dem volk noch einen austausch an, das klappt nicht, lasst ihn kreuzigen singt der chor am ende des gesprächs in einem geschlossenen, schnellen kreislauf, da gibt es kein entkommen mehr. keine chance. dann geht es noch ein bisschen hin und her, aber barrabas wird freigelassen, jesus wird gepeitscht und geschlagen, es ist vorbei. dann singt der alt, gefasst, man hört, der j. ist verloren, aber er ist noch da, da steht jemand noch am anfang der trauer, noch ganz abgewandt vom geschehen, ganz für sich, noch fassunglos, aber schon in der akzeptanz, als sei er schon gestorben. das hat mich früher immer so aufgeregt, der generelle mangel an revolutionären aktionen bei hinrichtungen jeder art. man nimmt sie hin. jesus stirbt dann neun stunden lang, am ende erkennen die menschen ihren fehler, aber es ist zu spät. er wird vom kreuz genommen und joseph übergeben, der ihn beerdigt, mit reinem herzen.

menno, jetzt ist schon 00 uhr, nur weil meine liebste einspielung nicht online ist. besorgt sie euch, es ist die beste. und ja, ich bin agnostikerin, außer beim hören dieser musik. dann wird alles schlüssig sozusagen, schlüsselfertig, besenrein.

edit: heute früh mit dem dringenden traum wachgeworden, ich müsse noch schreiben, dass ein bach-sohn direkt nach dem auftritt als sänger der mp verstorben sei, und dass die passion auch deswegen so lange nicht mehr aufgeführt wurde, weil ein persönlicher leidensweg damit verbunden war. im traum habe ich das am sonntag im bach-museum gelesen, in einem text zu seiner familie, aber in meiner dicken bachbiographie finde ich das nicht, auch nicht im netz. schräg. war mir sehr sicher heute früh. vielleicht, weil der g.-zwilling dem d.-zwilling und mir auf dem spaziergang von einem unfall in chile erzählt hat, bei dem er ein paar meter in freiem fall in einen abgrund gestürzt ist, aufgehalten von so einem absatz im fels, hoch über einem vereisten see. wurde mir sehr anders, als ich das hörte. er musste dann „20 km mit verstauchtem fuss“ zurücklaufen. (heute frei, da kann ich bachforschung betreiben).

es war jedenfalls in leipzig richtig kalt, hätte fürs stundenlange herumlaufen doch eine schicht thermowäsche drunterziehen müssen, vor allem die kälte war anstrengend. vor einem jahr war ich im kurzurlaub um den frauentag beim großen in trier, da hab ich auch gefroren, diesmal immerhin mit warmer wollmütze. märzkälte beisst.

am abend ist noch der d.-zwilling dazugekommen, halle ist nur eine stunde mit der s-bahn entfernt, wir haben beim g tee getrunken und sind dann essen gegangen, in ein riesiges lokal mit offener küche, vietnamesich-japanisch. wir haben gut gegessen, aber nicht gut genug für den preis, ich habs genossen, die beiden an einem tisch zu haben. beim plaudern und reden läuft bei mir immer der zweite film im hintergrund, die erinnerung an die 18 jahre, die ich die kinder zuhause jeden tag beim essen um einen tisch hatte. worüber haben wir geredet? es gab wenig heftige diskussionen, wie ich es bei anderen eltern immer mit einem gewissen respekt beobachtet habe, soviel intellektuelles engagement, andauernd, es war bei uns schon eher bewusst friedfertig, versöhnlich, eher den konflikt vermeidend und dabei auch mal ins smalltalkhafte gleitend, oder erinnere ich das falsch? manchmal sorge, dass das alleinerziehen die gute beziehung zu dem einen hauptzuständigen elternteil wichtiger macht, es bei zwei eltern leichter ist, auch mal mit allem ins kontra zu gehen. ach nee, es gab gar nicht soviele konträre punkte früher, mit den kindern bin ich mir in den meisten grundlegenden dingen einer meinung. nach dem essen haben wir den d.-zwilling noch in die illustre albertina begleitet, wo er abends noch lernen wollte, für eine klausur heute. hat mich sehr beeindruckt.

am nächsten tag musste ich um 10:30 auschecken, sonst noch einen tag bezahlen, bisschen frech, also frühstück beim g., dessen wg zufällig nur 100m neben meiner pension liegt. danach sind wir ins grassi – museum für angewandte kunst spaziert, wo wir erstmal einen kaffee und ein süppchen zu uns genommen haben (der stoffwechsel der jugend!). ich bin da 2 stunden herumgelaufen, fand es entspannend, die ganzen schönen gebrauchsdinge, die keine meinung erfordern, viel porzellan, allerlei kram aus dem alltag in anderen jahrhunderten. überraschend eine toilette aus dem 18. oder 19.jh, in reich geschmückter blaublüten-keramik, sehr schön, das wäre doch was! würde ich lieber reinigen als die ewig klinisch weißen unserer tage. der g. ist dann zurück in seinen sonntag, mich hat es noch ins bach-museum gezogen, wollte unbedingt einmal ein paar manuskripte sehen, dicht davor stehen, im gleichen raum sein mit ihnen, yadda yadda.

das museum ist im bose haus, dem haus der familie bose, die mit den bachs gut befreundet waren, es liegt direkt gegenüber der ehemaligen thomasschule, in der bach mit seiner familie gewohnt und gearbeitet hat. das museum ist schön eingeschmiegt ins haus, es gibt sehr viel musik zu hören, das mochte ich, auch wenn die displays zur auswahl nicht mehr top of the line sind. gut gemacht, sie schaffen es, mit den wenigen objekten, die es aus bachs lebenszeit noch gibt, ein paar seiten noten, eine schatztruhe, eine orgel, dieses bunte und so vielseitige und wirkungsvolle musikerleben nachvollziehbar zu zeigen.