23. märz

es ist so still.

diese texte über covid-19 sind wahrscheinlich das erste mal in 20 jahren interessant, oder bei der nächsten pandemie. ich habe schon einmal an einem jahrhundertereignis teilgenommen, aber anders als beim mauerfall springt der impuls zur dokumentation jeden an, der irgendein soziales medium nutzt. mir hilft das über die unruhe, es geht allen so, jeder spricht darüber. meine erinnerung an den mauerfall hat etwas ganz privates, meine eigenen bilder sind grundlegend anders als die aller anderen, sie sind nicht symbolisch oder repräsentativ, sie sind zufällig, erlebt und nicht gesucht. ob sich die bedeutung so einer geschichte für die biographie verändert, wenn alle ähnliche bilder damit verbinden? sind die bilder stärker als die erfahrungen, geht etwas verloren oder kommt was dazu? es wird eine unwucht in richtung bilder vs erlebnisse geben, wenn die blogs und reportagen nicht gelesen werden, ein grund mehr, auch banales aufzuschreiben. vielleicht reichen ja auch memes.

bei all der digitalen gemeinschaft vergesse ich zur zeit fast, mein alleinsein und die ruhe zu genießen, dabei bin ich sehr gern allein. die jungs halten ihre zimmertüren geschlossen, wir sehen uns beim essen, und wenn es etwas zu sagen gibt. also netz aus, buch und musik an.

heute, am ersten tag der anders genannten ausgangsperre, ist die ruhe viel deutlicher. man hört gar nichts mehr. auf der strasse waren am wochenende noch relativ viele passanten unterwegs, nur sehr wenige mit maske, die meisten hielten weniger als anderthalb meter abstand, beim bäcker gehen die leute dicht an mir vorbei durch die tür, ohne hochzuschauen, auch auf der strasse lässt sich fast niemand zu einem ausweichen hinreißen, weiche ich also selber aus. ich glaube, es geschieht selten aus einer entscheidung heraus, häufiger aus so einer art trägheit, einem beharren im normalen, es gibt noch keinen schutzreflex.

ich bin ein bisschen erkältet, habe zue ohren und einen kleinen frosch im hals, war bis vor einer woche in einem umfeld mit der höchsten erkältungsdichte überhaupt beschäftigt, einem kindergarten. der eine zwilling mit allergien und asthma hustet gelegentlich, einerseits ist es die jahreszeit dafür, andererseits hat ein kumpel gestern von einem coronafall in der familie berichtet, die beiden haben sich vor einer woche in einer größeren gruppe unter freiem himmel mit ellbogenstups begrüßt, trotzdem gab es natürlich eine gewisse nähe. es ist der zweite fall in der familie, der große hatte ja auch schon einen eventuellen kontakt, immerhin wird die quarantäne in dieser zweiten woche leichtfallen, weil alle mitmachen. in der ersten woche hatten wir keine, weil wir nichts von der infektion wussten, haben aber abstand gehalten, hände gewaschen und sind nicht ausgegangen, auch die söhne nicht. ohne die jetzt verordnete strikte isolation ist das virus unter jungen menschen nicht aufzuhalten.

wäre aufregend, wenn auch der gemeine schnupfen verschwinden würde.

bis auf bisschen gemüse für die hühnersuppe, und frischem obst, muss ich diese woche nix einkaufen, habe vor, dafür eine maske aufzusetzen. bin mir relativ sicher, dass wir bald alle eine tragen werden, wir haben zuhause noch irgendwo ein paar einzelne ffp3-dinger aus einer alten bestellung, ich könnte aber noch welche nähen, baumwolle und küchenhandtücher sind ein guter ersatz, wie es scheint. eine firma näht masken in diese schlauchschals, die über mund und nase hochgezogen werden, alle ausverkauft, das kann man sicher auch selber machen, ähnliche schals gibt es für wenige euros online, sie sind ein bisschen diskreter als die masken, zumindest, solang es noch nicht wärmer wird.

ich warte auf online bestelltes mehl, bei den letzten drei supermarktgängen waren die regale leer, es gab auch online lieferschwierigkeiten, aber heute kam die versandbestätigung. endlich backen! ich verwende das gute caputo-mehl, die mutterhefe überlebt damit schon ein jahr trotz gelegentlicher vernachlässigung.

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die angst vor der leeren rolle

erinnere mich an das, was ich über die anale phase gelesen habe: autonomiebestreben des kleinkindes, lustgewinn durch erste kontrolle des körpers, manchmal ins autoritäre kippelnde sauberkeitskontrolle durch die eltern.

wir wollen und wir könnten, weil das system grade runterfährt, aber wir dürfen nicht, weil dann vielleicht etwas schlimmes passiert. die bürgerliche ordnung mit ihren regeln und dem sich fügen ist so fest in der psyche verankert, und die bedrohung reicht so tief ins subjekt, da wird auf frühkindliche erfahrungen zurückgegriffen. klopapier vermittelt vielleicht ein tiefliegendes sicherheitsgefühl, haben doch die eltern damit schützende grenzen vor die anarchie des kleinkindes gesetzt, die symbolische ordnung wird aufrechterhalten, und je größer die bedrohung, desto mehr klopapier.

irgendwo gelesen, dass in frankreich kondome und rotwein knapp werden, ein umgang mit revolutionären zeiten, der mir wesentlich unterhaltsamer scheint.

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20. märz

gestern vormittag bei obi mit g. nur einzeln reingelassen worden, immer nur ein familienmitglied. sie haben zwischen kasse und kunden trennwände gebaut, große klare plastikscheiben auf einem gerüst aus holzlatten, sehr baumarkt. die kassiererinnen tragen handschuhe, halten abstand, da trägt jemand fürsorge und kümmert sich im rahmen des möglichen um seine mitarbeiterinnen. beim rausgehen standen bestimmt 20 leute in der schlange. später bei DM bat man auf stelltafeln um rücksicht und abstand, drinnen stand ein wachschutzmensch, aber es war nicht so voll. keine mülltüten, kein klopapier.

nachmittags viel stress mit g.’s flug. er hätte nach kapstadt fliegen sollen, um dort bei einer freundin zu wohnen, die ein praktikum macht, und sich dann das land ein paar wochen anzuschauen. viel zeit und selbstverdientes geld sind in die vorbereitung gegangen, es war eine für ihn sehr wichtige reise, ein freischwimmen auf einem anderen kontinent und in einem anderen meer, weit weg von zuhause. er wollte hin, komme was wolle, hat am samstag erfahren, dass ab dieser woche keine deutschen staatsbürger mehr ins land gelassen werden, wollte den flug erst vorverlegen, um noch hinzukommen, muttern im hintergrund zwar unterstützend, aber auf die trägheit des systems vertrauend. am sonntag schien dann auch sein transit mit umstieg über doha nicht mehr möglich, 14 tage sollen deutsche reisende in quarantäne. trotz der so eindeutigen lage war es in 5 tagen nicht möglich, den flug zu stornieren oder umzubuchen, nur am tag vorher, für einen 0-euro gutschein. da war auf der webseite von qatar der weiterflug von doha nach kapstadt schon gecancelt. qatar verwies beim storno/umbuchungsversuch auf den buchungsservice, opodos webseite war überlastet, ans telefon ging stundenlang niemand. stundenlang. wir haben mails geschickt, aber der flug nach doha ist gestern gestartet, ohne g., der rückflug wurde gestern dann auch noch gecancelt. zum glück ist er nicht mitgeflogen, ob sie ihn mitgenommen hätten ohne aussicht auf ein weiterkommen, meinen 18jährigen? am abend kam eine mail von opodo mit der bitte, sich in doha an das deutsche reisebüro zu wenden.

g. ist wohl unfreiwillig zum no show geworden, keine ahnung, ob er von seinen 700€ etwas wiedersehen wird. die extra bei der allianz abgeschlossene reiserücktrittsversicherung verweigert corona-ersatz, alle beteiligten firmen (qatar, opodo, allianz) scheinen ausschließlich aufs eigene wohl bedacht und unfähig, sich der neuen lage anzupassen. lektion gelernt.

in den paar schönen tagen seit dem wochenende hat sich mein bücherstapel ordentlich reduziert, auch der karton mit den italienischen büchern ist leer geworden. jetzt kippt das wetter leider, g.-zwilling hat seinen reisefrust ins aufräumen gesteckt, sein zimmer zweimal komplett umgeräumt und dabei ebenfalls stapelweise büchern aussortiert, die jetzt auch alle auf dem flur stehen und arg nach etwas unfertigem aussehen. heute hat sich d.-zwilling anstecken lassen. die wohnung wird super aussehen nach dem rückzug ins private. die schulbücher könnte ich vielleicht weiterverkaufen, ein paar neue auch, aber den rest können wir, falls tatsächlich eine ausgangsperre kommt, im prinzip wieder einsortieren.

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18.

leerer tag. frühmorgens die freude, dass der große negativ getestet wurde, er war in kontakt mit jemandem, der in quarantäne war, und hatte husten. in trier ist es wohl einfacher, sich testen zu lassen, er hat telefonisch bei der hausärztin um eine überweisung gebeten, die wurde an die drive-in-teststelle gefaxt, er ist hin, das fax war nicht angekommen, ist er wieder zurück zur ärztin und hat durch eine freundin die überweisung abgeholt. in der garage hat dann nach kurzer wartezeit jemand in schutzkleidung den abstrich gemacht, „aber die autoschlange war lang“, heute früh kurz nach sieben hat die praxis telefonisch entwarnung gegeben. die familie informiert, balkon gemacht, aufgeräumt, hund ausgeführt, keinen zugang gefunden zu was auch immer.

viele nachrichten geschrieben und gelesen, viel telefoniert, lauter alte freunde gehört, das war sehr schön. mit den zwillis diskutiert, grade zusammen gegessen. mein zeitgefühl ist noch nicht justiert, sonst ist sowas wie wochenende oder mittwoch mit abläufen gefüllt, die bis in die tieferen gefühlsschichten gehen, dort nerven oder freuen, erkennbar und planbar sind. jetzt ist es ein bisschen wie schiffbrüchig auf einer insel, oder ein traum vom spiegeluniversum, alles still mit winzigen leblosen bösewichtern. heut waren zum ersten mal alle läden zu, aber ich habe nichts mitbekommen. will eigentlich noch einen blumentopf kaufen. die strassen waren bei den hunderunden relativ voll, vor der apotheke standen die leute in anderthalb meter-abständen in der schlange, beim vietnamesen war es aber eng wie immer.

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17. märz 20

erster tag zuhause, noch voll im hamsterrad-modus, bisher kaum freude über die freie zeit, ich habe schwierigkeiten mit meinem sonderstatus „risiko“ aufgrund von diabetes. ich brauche zwar gelegentliche kurze auszeiten während der arbeit bei hypos, bin deswegen aber nie tagelang ausgefallen. in den letzten monaten habe ich versucht, den diabetes sichtbarer zu machen, habe von schwankungen geredet, bolus-entscheidungen erwähnt, gesagt, dass ich die nudeln lieber nicht esse, weil mein wert grad nicht optimal steuerbar ist. seitdem ich loope, sind hunderte von diabetikern in mein leben getreten, es hat mir gut getan, nicht mehr allein damit zu sein. ich war nie krankgeschrieben wg diabetes, vom typ her habe ich da auch einen stolz entwickelt, in allem gesund zu sein.

den ganzen tag durch die leere stadt gesaust, es gab noch eine terminsache zu erledigen. hektisch bis in den abend. die realität hat mich noch nicht wieder, ich habe noch keinen zugang gefunden zur neuen situation, es bleibt sehr befremdlich, ich kann ja auf keine erfahrungen zurückgreifen, jedes wiedererkennen (sonntagsruhe) führt in die irre. es wird ein paar tage dauern, bis ich ein neues normal erreicht habe. im umkreis gehen die gefühle weit auseinander, von panik zu spott, ich bin pragmatikerin und ändere einfach mein verhalten wie angefordert. bin allerdings lebensgefahr und sehr konkrete angst um meine zukunft gewöhnt, corona ist da nur ein weiteres zusatzrisiko, wie bei dem diabeteskram tue ich, was ich kann, um die folgen zu vermeiden, und weiß doch um die grenzen meiner bemühungen. zufall, genetik und die umstände sind nicht steuerbar.

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a bis z

in den letzten wochen habe ich meine bücher sortiert, nach alphabet, dabei alle doppelten reihen und stapel mit eingenordet. es war mühsam und hat lange gedauert, das aussortieren ging mit der zeit leichter, ich hab gemerkt, dass ich ein kind meiner zeit bin und eher auf neuere als auf ältere autoren verzichte, wenn ich mich weder an den/die autor/in noch an den inhalt erinnere, hab ich das buch rausgenommen. es sind sehr viele geworden, sie liegen im flur gestapelt, ich darf sie nicht wieder anschauen, bis ich einen abnehmer finde, will aber auch nicht drüberfallen, das wird also eine herausforderung.

beim bücher räumen bilder im kopf, wie die wohnung irgendwann einmal einem entrümpler überantwortet werden wird, für den all das nur gewicht und aufwand ist, oder meinen kindern, die auch nur ein paar autoren davon kennen und wenig behalten werden, vermutlich, wer weiß schon, wie sie sich entwickeln. wir leben in der gegenwart, für die gegenwart. sentimental geworden, den klardenkenden d.-zwilling in ein gespräch ziehen wollen über die vergänglichkeit, aber er hat mich gleich wieder auf den weg gesetzt („entscheide einfach, wieviel platz du brauchst“).

hinter einem zugestellten bild ein din a3 – großes fotobuch entdeckt, dream house von gregory crawson, auf den bildern lauter interieurs mit menschen drin, die menschen sind schauspieler wie tilda swinton oder william h. macy. auf jedem bild scheint gerade etwas passiert zu sein, oder wird gleich passieren, aber wir wissen nicht, was es ist. der blick darauf wirkt voyeurhaft, sie haben spannung, wirken wie filmstills, mitten aus einem geschehen heraus. in keinem der zimmer stehen bücher. gedacht, dass bei mir die bücher die geschichten erzählen, hunderte, andauernd, und keine ist ein geheimnis, keine erlangt bedeutung durch mein unwissen über das, was war oder sein wird. ich muss sie nur öffnen und weiterblättern.

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