palle varie

einem zwilling eine entschuldigung mitgegeben für heute. die lehrerin wollte eine extrastunde an den regulären unterricht dranhängen, von 17:10 bis 18:00. grade gehört, dass sie die stunde abgesagt hat. gute schule. mir kamen im supermarkt gestern die auffälligen mengen an bierkästen und chipstüten in den einkaufwägen merkwürdig vor, da hab ich sicherheitshalber nachgefragt, wann denn die wm anfängt, und konnte so selber noch knabberkram an bord nehmen, immerhin einen tag vorher. die zwillis machen eh public viewing, ich bin halbwegs desinteressiert (zwilling „du kannst doch deine freunde anrufen“), der große hat seine hippiephase und will nur die spannenden spiele gucken. junkfood ist schon weg und wurde gerecht aufgeteilt, wie mir mitgeteilt wurde. ich bin nicht doof und habe mir eine portion versteckt. wenn ich sie wiederfinde, kann ich sie ja auch ohne fußballgucken essen.

schön war, als d.-zwilling vor paar jahren regelmäßig mit seinen freunden zu den spielen einer lokalen italienischen mannschaft am stadtrand gefahren ist, mit fahnen und allem, und die jungs dort durch jubelei ein paar tore verursacht haben, wie mir erzählt wurde.

als g.-zwilling in einen tollen berliner verein aufgenommen werden wollte, und dort beim vorspielen dauernd sehr dramatisch auf den knien durch die halle geschliddert ist, obwohl das sonst nicht seine art ist. er wurde nicht genommen.

2006 sind wir ausgerechnet während dem endspiel  mit dem autoreisezug nach italien gefahren,  in der wartehalle am bahnhof wannsee saßen alle über ihren rechnern, bis der zug abfuhr, und wir erst beim aufwachen in verona (oder münchen) gemerkt haben, dass italien gewonnen hatte. oder saßen sie über radios?  vergessen.

2010 war das endspiel an meinem geburtstag, ich bin herumgestromert und habe hier und da mitgeguckt. am ende frau modeste samt freunden getroffen, die in einem cafe saßen, mich dazugesetzt, angestoßen. die kids waren da wohl beim vater.

fanmesser

letzte woche habe ich mein messer bekommen. ein echtes, es schneidet hochgehaltenes papier wie butter, es ist massiv, aber klein genug, um gerade noch so als taschenmesser dabei sein zu können, ich werde damit mein mini-mini-schweizer messerchen ersetzen. ich erzähle das, weil es der zweite fanartikel meines lebens ist, gekauft im impuls, 4 wochen unterwegs, vom zoll abgeholt (=aufwändig), und ich mich darüber genauso freue wie ein teenager, wobei die echten teenager keinerlei interesse an solchen dingen haben, sie empfinden diese wertsteigerung nicht, von der digitalen in die haptische wirklichkeit. oder sind es dann einfach keine fans?

ich bin in meinen vorlieben ganz unhinterfragbar dem dinglichen verpflichtet, mag einzigartiges, signaturen in büchern und echte bilder. sicher auch, um einem mangel an einzigartigkeit meiner persönlichkeit beizukommen, aber wenn es funktioniert, warum nicht?

darren burrows hat es mit der hand graviert und auf etsy verkauft, mit anderen metallarbeiten zusammen. er hat eine meiner liebsten serienfiguren gespielt, vor über 20 fast 30 jahren, jetzt lebt er auf einem hof in missouri, mit frau, kindern und tieren, und tut dies und das, worüber wir gelegentlich auf facebook informiert werden. dort hatte er seine stücke sozusagen inseriert. hätte ich das messer auch so gekauft? vielleicht, aber  aus den USA – nein, eher nicht. ich habe ja schon ein taschenmesser, wenn auch ein sehr kleines.

zusammen mit anderen schauspielern wollte burrows vor ein paar jahren in einem crowdfunding -projekt eine irgendwie geartete wiederaufnahme erreichen, ich weiß nicht, wie weit das gediehen ist. serien haben ja für den zuschauer sowieso ein hinreichendes maß an unsterblichkeit, mein schlechtes gedächtnis trägt dazu bei, dass mich wenn nicht die plots, dann doch die dialoge und das miteinander der figuren immer neu erfreuen können. für schauspieler und filmmacher ist die sehnsucht eine andere, vielleicht auch existenziellere. geschichten dieser art lassen sich glaube ich immer erzählen, vielleicht nicht noch einmal diese geschichte, aber mit neuen figuren geht das bestimmt.  einstweilen würde mich schon darüber freuen, wenn ein streamingdienst sich der serie annähme, zum gelegentlichen gucken ohne aufstehen.

andere serien haben es mit ähnlicher grundidee versucht, dort gab es gelegentlichen charme und ein, zwei einfälle, wie bei men in trees, aber keine spur magie, dort war die skurrilität meist auf kosten einer figur, oder als bestätigung eines clichees, immer mit einem preis, nie so selbstverständlich und unkommentiert und normal wie bei NE, als teil des menschseins. in dieser grundstimmung lassen sich ohne brüche im tonfall auch klaviere werfen oder mammuts essen, es war einfach begnadet schön geschrieben, ich hoffe, gute drehbücher sind zeitlos.

meinen bildungsauftrag habe ich da erfüllt: für den großen ist es die beste serie aller zeiten. er ist damit nicht allein, auf seiner wanderung hat er dauernd neue menschen getroffen, einmal waren zufällig alle in der gruppe (aus canada, australien und den usa) große fans. diese liebe ist also noch sehr lebendig. habe das herrn burrows erzählt auf fb, er hat daraufhin den sohn grüßen lassen, womit ich ihm eine freude machen konnte. es ist einer von den guten, und er hat mir ein messer graviert.

(ich wollt eigentlich nur drei zeilen über das messer schreiben, aber bei NE blubbert es immer noch eine weile)

 

Fasziniert von moderner Chirurgie: Bei Muttern wurde in Lokalanästhesie das eine Auge instand gesetzt, Glaukom und Katarakt, Minuten später guckt sie mit dem andern Auge TV. Mein Tag mit SMS-Geschnatter zwischen Tanten und Freundinnen und mit aus Stress-Mimesis hohem BZ. Der Moment am spätnachmittag, wo ich unterzuckert an der Parkschranke auf dem Rewe-Parkplatz in Auto sitze und nicht verstehe, warum die Schranke nicht aufgeht. Klar und verläßlich strukturierte Serien gucken.

holy grail guitar show 2018

tl;rl: viele, viele gitarren, alle toll, ein paar besonders. mehr frauen sind erwünscht.

die messe wird von den european guitar builders veranstaltet, einer allianz von gitarrenbauern und anverwandtem gewerbe aus ganz europa. dieses jahr haben sie eine besonders schöne idee gehabt: ihnen ist aufgefallen, dass es eher wenig frauen gibt auf solchen veranstaltungen, frauen sind wohl unter den gitarrenliebhabern ein bisschen unterrepräsentiert, das gilt auch für den instrumentenbau,  121 männliche und nur 6 weibliche luthiers waren mit ihren instrumenten auf der messe dabei, wenn ich mich nicht verzählt habe. es gibt wohl auch weniger musikerinnen an der gitarre. sie haben deshalb etwas dagegen unternommen (etwas tun hilft ja am besten), und haben im letzten jahr alle zusammen drei instrumente gebaut, für drei junge europäische musikerinnen, einen bass für julia hofer, eine akustische für jacky bastek und eine e-gitarre für elena todorova, in enger zusammenarbeit miteinander und mit den künstlerinnen. die gitarren und der bass wurden dabei in diversen rohzuständen kreuz und quer durch europa geschickt, bis sie dann in berlin auf der hggs 2018 übergeben werden konnten.

e. todorova, j. hofer, j. bastek mit ihren neuen instrumenten (foto aus der 2. reihe, warum bin ich bloss nicht aufgestanden dafür?)

das hätte ein wirklich tolles reiseblog gegeben, aus der sicht einer gitarre. ich hoffe, die instrumente sind so toll geworden, wie es die idee versprochen hat. am wochenende haben die spielerinnen ihre neuen schätze gleich vor publikum ausprobieren und spielen können.

bei julia hofers interview am ende des vorspiels war ich dabei (bin sitzengeblieben), sie hat unter anderem erzählt, wie ihr die bässe im handel oft einfach zu unhandlich und schwer sind – bei elektrischen bässen kann es eigentlich nicht so schwer sein, am gewicht zu sparen. das geht bestimmt vielen frauen so, man hat da so einen 4-6kg-trumm in den händen (ein paar leute haben ihre bässe gewogen, hier), und so eine unbewusste korrelation von qualität und gewicht hindert vielleicht einige mädchen daran, einfach mal anzufangen, in diesen testrunden in den musikschulen.

so jedenfalls kann man es auch machen.

mir sind ein paar gitarren in die hand gedrückt worden, als ich auf die frage you playin? mit yes geantwortet habe, noch bevor ich but not really good hinterherschieben konnte. vielleicht zeigt sich in all dieser freundlichkeit auch eine zuwendung an die frauen im publikum, die ich als ermutigend wahrgenommen habe, so ein „mach einfach!“.

das hat auch eine der wenigen frauen aus der zunft gesagt, mit sehr edlen spanischen flamencogitarren, als ich ihr meine faszination fürs gitarrenbauen erzählt habe. „holy grail guitar show 2018“ weiterlesen

geburtstag, 17, geld

dem einen zwilling wollte ich zum geburtstag eine neue himitsu bako schenken, nachdem er seine alte zerschmissen hatte. das ist mir allerdings erst am tag davor eingefallen, also habe ich einen zirkusladen in charlottenburg gefunden, der noch eine im regal hatte, ein kleines unauffälliges regal in einem geschäft, das bis in den letzten zentimeter mit bunten, schwer verständlichen sachen gefüllt ist. der eigentümer hat ein paar tische auf die straße davor gestellt, da saß ein mann und hielt eine einzelne pfauenfeder in der hand, mit zwei fingern, als würde der zauber von selbst passieren.

die box hat nur 10 schritte und ist nur 4 sun (12cm) klein, aber ich wusste , dass ihn das freuen und überraschen würde, wo er doch seit monaten immer nur „ich weiß nicht, eigentlich gar nix“ sagt, wenn ich ihn nach wünschen befrage. mit 17 ist der lebensstrom wichtiger, die jahreszahl, nicht mehr so die rituale der eltern, sie haben alles wesentliche, ihr geschmack ist eine klare binäre sache, für grauzonen und kompromisse haben sie noch keine notwendigkeit, ihre bedürfnisse liegen nicht im dinglichen, außer bei kleidung. der andere zwilling wollte einen verstärker haben, ein guter wunsch. david hat also geld bekommen, in einer schönen kiste, ich glaube, es hat ihm gefallen, ich habe dieses kurze kleine strahlen gesehen beim auspacken, für das eltern ja alles tun würden. das mit dem geldgeschenk war auch der vorschlag von ihm, den ich dauernd überhört habe davor. gregor hat seinen schein (von der nonna gab es auch noch was) in einen kinoabend mit seiner freundin investiert, david denkt über ableton nach, hofft aber, dass ihm auch noch eine freundin dazwischenkommt.

jedenfalls hat mir der verkäufer erzählt, dass die alten meister dieser holzarbeit in japan keine nachfolger finden, es deswegen nachbauten in china gibt, die weniger gut sein sollen, und deutlich billiger, aber woran kann man sparen bei diesem handwerk? am holz vielleicht, und am lohn. man kann die urheberschaft außer am „made in japan“ manchmal an einem hanko erkennen, einer signatur in form eines zeichens oder eines namens, das sind aber keine sicheren verweise, weil auch schüler manchmal stempeln dürfen. ich weiß nicht, wie viele solcher arbeiten eine werkstatt schafft, mein lieblingsladen hat jeden monat so 6-8 neue dinge zum verkauf, nicht alles puzzleboxen, auch andere arbeiten. es muss andere verkäufer geben, der markt scheint relativ groß.

beim rumgucken habe ich ein stück mit einem kleinen koi auf der rückseite gekauft, dazu eher überflüssige behältnisse mit so einem schiebedeckel aus feinen streifen yosegi-holz. die verkauf ich wieder, glaube ich. 10 x 15 x 5cm. für zigaretten zu groß, ich rauche ja auch nur geschnorrte, für den täglichen gebrauch zu empfindlich, vermute ich. aber sehr hübsch.

Nels Cline 4 at Zig Zag Jazz Club

As soon as the musicians were on stage, several cell phones went on in the audience. Guitars were googled. I like the idea of ​​people buying an instrument or hoarding their knowledge about them because someone else is playing well. I’m very open towards other mechanisms of virtual and symbolic appropriation.

Cline (who has a twin brother playing the drums) had the mic, but did not say anything, just started to play, after a glance at the fully booked hall. And then, after a few seconds, the guitarists drifted out of my focus, and my attention shifted to the drummer. He was so good, he took a lot more space than just a rhythm line, a rich and thoughtful space. You may know this brief sense of correctness and realisation when switching from 2D to three-dimensional on Google Earth, from rectangles to houses, from spots to trees, or from mountains to the world. As if it were an evening with Tom Rainey and band. So that’s what it really sounds like to play the drums.

I do not know if this is just the way things are done  these days anyway, but after this first piece I was awake and attentive again.

(The first concert of the evening were two very very free jazzmen, the Kropinski-Heupel duo, one on transverse flute and even bass flute, playing something like scrambled scales, breathless, without beginning or end or any other hommage to my ears. I listen to it and think „ah, interesting“ and find no access, but I do not know if there is any access at all, or just l’art pour l’art. On the other hand: A guy from the audience told me about a concert he attendet while beeing with the military in the GDR, and how free jazz saved his soul, that is, of course, an excellent argument.)

The music and the tracks (as content and form) were mostly from Cline, and there was everything in them, they are highly complex systems,  all have an end (I do not like finishing on a jinglejangle, nor with a fadeout), are mini-worlds. Swing ghost ’59 is really great, even though I do not understand what I’m hearing, just that it has it all. And it is beautiful and funny. It is exiting to listen to highly different pieces of musical structure, known and unknown, coming together into a work of art, or rather interlocking them like magic, as if Cline had started on something divine, would have retro-engineered it, and that’s what came out of it. (I am a bit hypoglicemic)

This time Julian Lage for my taste was not central enough, he had some fun and played a lot, but today it was about a band, it was a concert evening, with the songs more center stage than the heroes. No dialogue between guitars like in Milan, all of these four outstanding musicians were on an equal footing. The bassist was Jorge Roeder, a different guy  than the one on the CD. Maybe this tour is the other side of the coin Cline / Lage, first a tour with more Lage, then one with more band? They also had a few free or avant-garde jazz solos, even one from the drummer, all played with heart and soul and the whole man behind it, even with a certain sexiness. The enrapture during the solos has, like the solo itself, some elements of show, but the main energy was the mere happines to be able to make music, constantly, every day, with people who are better than you. Everyone is better between these, its like you always tell all of your children that you love them most. I can listen to those solos when I can see and feel that impulse, only live in concert, otherwise it is too closed up for my hearing, if you take recognizable harmonies or melodies as an opening.

The show was actually too short, 80-90 minutes, there was a very quiet encore, Cline said thank you, bowed, and „nice that you came“.

The club has room for maybe 200 people, the way to the bathroom leads right past the stage, and passing by I looked for and got some eye contact, I love that about small locations. The guys with the phones went to the stage as soon as the musicians left, to take pictures of amplifiers and pedals. At the end of the evening, the room was almost empty, Cline and Lage were clearing away  their cable stuff, and I took my chance to ask them to sign my CD. Few people do that, is signing only common with books? I’ll have everything signed that’s not on the tree at three, it changes my sentiment and closeness to art and artists, and you get a smile. It works like an additional anchor.

I had spent my last cash for the CD, and did not wait to see if the musicians show up again. I don’t have music related questions, and the other ones are hard to answer anyway. Where does the magic come from, whether they had to sacrifice something, if everything in them is music, and how to find the end of a piece, more with the heart or the head? This is of course nonsense, because in this class of brilliance your talent is just one part, with intelligence, perception, the openness of the soul. Who wants to unravel all that?

Please come back soon.

Nels Cline 4 im Zig Zag Jazz Club

Sobald die Musiker auf der Bühne waren, gingen im Publikum diverse Handies an. Gitarren wurden gegoogelt. Ich mag die Vorstellung, dass Menschen sich ein Instrument kaufen, oder ihr Wissen darüber horten, weil jemand anderes gut drauf spielt. Stehe ja auch anderen Mechanismen der virtuellen und symbolischen Aneignung sehr aufgeschlossen gegenüber.

Cline (der übrigens einen Schlagzeug spielenden Zwillingsbruder hat) hatte das Mikro, hat aber nix gesagt, sondern gleich angefangen, nach einem kurzen Blick in den sehr, sehr vollen Saal. Mir sind dann die Gitarristen nach ein paar Sekunden wieder aus dem Fokus geraten, weil der Schlagzeuger so gut war, viel mehr Raum als nur Rhythmuslinie, ein reicher und durchdachter Raum. Ihr kennt vielleicht dieses kurze Gefühl der Richtigkeit und des Echtwerdens, wenn man auf Google Earth von 2D ins Dreidimensionale wechselt, aus Vierecken werden Häuser, aus Flecken Bäume, oder Berge, jedenfalls Welt. Als wäre es ein Abend mit Tom Rainey und Band. So gehört das also, so hört sich das wirklich an, wenn jemand Schlagzeug spielt.

Ich weiß nicht, ob das heutzutage einfach eh so gemacht wird, aber nach diesem Einstieg war ich wieder wach und aufmerksam.

(Das erste Konzert an dem Abend, waren zwei sehr sehr freie Jazzer, das Kropinski-Heupel-Duo. Einer auf Querflöte und sogar Bassquerflöte, hat aber meist so etwas wie gescrambelte Läufe gespielt, atemlos, ohne Anfang oder Ende oder sonst eine Hommage ans Ohr des Hörers. Ich hör mir das dann an und denke „ah, interessant“ und finde keinen Zugang, weiß aber auch nicht, was mir das bringen würde, wenn ich einen hätte, weiß nicht mal obs da überhaupt um Zugang geht, nicht viel mehr um reine art pour l’art. Andrerseits: Ein Zuhörer hat mir vorm Konzert von seiner Zeit beim Militär in der DDR erzählt, und wie ihm der freie Jazz seine Seele gerettet habe, das ist natürlich ein excellenter Grund. )

Die Musik und die Stücke (als Inhalt und Form) waren meistens von Cline, und da war alles drin, es sind hochkomplexe Systeme, sie haben alle ein Ende (ich mag weder ausklimpern noch das fadeout), sind abgeschlossene Miniwelten.  Swing Ghost ’59  ist wirklich großartig, auch wenn ich nicht begreife, was ich da höre, nur: es stimmt alles darin. Und es ist wunderschön und lustig. Das aufregende Gefühl, wenn sich lauter bisher unbekannte, aber vage vertraut klingende Einzelteile zu einem Kunstwerk zusammenfügen, oder eher ineinander verschränken, wie Magie, als hätte Cline bei irgendwas göttlichem angefangen, hätte es retro-engineert, und das ist dabei rausgekommen. (Tick unterzuckert bin ich)

Julian Lage war diesmal für meinen Geschmack zuwenig zentral, der hat rumgekaspert und viel gespielt, aber es ging um einen Bandabend, einen Konzertabend, bei dem die Songs mehr im Vordergrund stehen als die Helden. Kein Dialog wie damals in Mailand, diese vier herausragenden Musiker waren heute gleichberechtigt zu hören. Der Bassist war Jorge Roeder, ein anderer als der auf der CD. Vielleicht ist diese Tour ja die zweite Seite der Medaille Cline/Lage, erst eine Tournee mit mehr Lage, dann eine Tournee mit mehr Band. Es gab auch ein paar free- oder Avantgarde-Jazz-Soli, sogar vom Schlagzeuger!, aber eben mit Herzblut und dem ganzen Mann dahinter, und mit einer gewissen sexiness. Das Hingerissene beim Solo hat bestimmt, wie das Solo selber, ein bisschen Show dabei, aber die Hauptenergie war das Glück, Musik machen zu können, dauernd, jeden Tag, mit Leuten, die besser sind als du selber, das wirkt jedenfalls sehr anziehend. Mit diesem Drive der Musiker vor Augen kann ich das hören, also nur live im Konzert, sonst ist es für mein Gehör zu verschlossen,  wenn man erkennbare Harmonien oder Melodien als Öffnung begreift.

Der Abend war mir eigentlich zu kurz, 80-90 Minuten, es gab als Zugabe ein ganz ruhiges Stück, Cline hat danke gesagt, sich verbeugt, und „schön dass ihr gekommen seid“.

Der Club ist ein Raum für vielleicht 200 Leute, der Weg zum Bad führt direkt an der Bühne vorbei, ich habe dabei den Blickkontakt gesucht und bekommen, ein Hoch auf kleine Locations. Die Leute mit den Handys sind zur Bühne gegangen, sobald die Musiker runter waren, um Verstärker und Pedale zu fotografieren. Am Ende des Abends war der Saal schon fast wieder leer, Cline und Lage haben auf der Bühne ihren Kabelkram zusammengeräumt, habe ihnen meine CD zum Signieren gebracht. das machen wenige leute, ist das Signieren nur bei Büchern üblich? Ich lasse ja alles signieren, was nicht bei drei auf dem Baum ist, es ändert mein Gefühl und die Nähe zu Kunst und Künstlern, und man bekommt noch ein Lächeln zum Erlebnis. Es ist ein zusätzlicher Anker.

Hatte jedenfalls mein  letztes Bargeld für die CD ausgegeben und wollte nicht allein darauf warten, ob die Musiker sich nochmal blicken lassen. Was mich wirklich interessiert, werden sie eh nicht beantworten können, woher nämlich der Zauber kommt, ob sie etwas opfern mussten dafür, ob alles in ihnen Musik ist, und wie man das Ende eines Stückes findet, eher mit dem Herz oder dem Kopf? Das ist natürlich Quatsch, weil sie ja deswegen so genial sind, nicht nur das Talent ist außergewöhnlich bei dieser Klasse, auch die Intelligenz, die Wahrnehmung, die Offenheit der Seele. Wozu das aufdröseln

Und wann sie wiederkommen. Bitte bald.

julian lage und nels cline in berlin

die beiden gehören zu den besten gitarristen der welt und damit des universums, sie kommen aus verschiedenen ställen und ich vermute, auch ihre leben waren sehr verschieden, was egal ist, wenn man sich in der musik begegnen kann wie diese beiden. vor lage wusste ich nichtmal, wie sehr ich jazzgitarre hören mag, er hat genau den richtigen dreh, nicht nur virtuosität (reine perfektion genügt nicht für wirklich große musik, sie bleibt eher fordernd) sondern auch humor und zwei beine fest im american song, im bluegrass, im folk. cline kenne ich nicht so gut, aber julian lage kann das große andere, viel seltenere, wo beim zuhören alles im kopf musik wird und ineinander aufgehoben scheint, der große strom mal restlos gekapert wird von musik, in schönheit. und er grinst dabei.

ich weiß nicht, was die zu viert miteinander machen werden, vielleicht bleibt es auch beim erwartbaren, aber ich denke, diese beiden können gar nicht anders als etwas wirklich neues zu spielen. es könnte diese magischen momente geben, lage schüttelt sie aus dem handgelenk (irre hohe schule, wenn es so aussieht), als würde er selber nicht wissen, wohin der flow ihn führt, und ihm einfach vertrauen. magic.

edit: es wird wohl doch bisschen wilder bei dieser tour:

in berlin, im zigzag jazz club, am 25. april. geht hin. (ich bin zu einem konzert von lage und cline mal richtig weit angereist, so wild war ich drauf, ihn/sie live zu sehen, und das hat sehr sehr lang niemand mehr geschafft)

… und jeder Ort ist hier.

aus Ursula Ziebarth: Hexenspeise, Verlag Günther Neske Pfullingen 1976

ich kann mein nachdenken über ihre sammlung schlecht fokussieren, auch weil in ihrem zimmer überall etwas steht oder liegt, in reihen über- und hintereinander,  würde gern in reihungen schreiben, komma an komma an komma, damit nichts verloren geht. es ist ein schatz im romantischen sinne, wie die schätze im indiana jones-film, eine unübersehbare menge von einzelnen dingen. sie sind einander ähnlich, weil man ihnen das handwerk noch ansehen kann, die nähte, die perlen und muscheln, (- schon wieder reihungen), die spuren vom schnitzmesser. sie sind farbenfroh und meistens eher nicht so abstrakt.

sie hat sie ihr ganzes leben lang gesammelt, ich habe sie nie gefragt oder gefragt (wahrscheinlich, es ist ja  naheliegend) und die antwort wieder vergessen, womit sie angefangen hat, oder ab wann es eine sammlung wurde. vielleicht eine antwort auf den verlust ihres elternhauses in der bombardierung berlins, oder einfach faszination an schönen dingen, das behaltenwollen mehr als das habenwollen, glaube ich. die schönheiten nicht mehr aus der hand geben müssen. 60 jahre später hat es sich ausgewachsen zu einer welterfahrung, einem wissensberg, der eben nicht metaphorisch erfahren wird, sondern tatsächlich da ist, vorhanden, anfassbar.

auf der beerdigung hat titus georgi (ein beuteenkel, wie ziebarth die kinder und kindeskinder von freunden nannte) das schön beschrieben, er sprach von den vielen verschiedenen wegen, mit denen menschen und kulturen mit denselben gegebenheiten umgehen, er hats viel schöner gesagt, aber in diesem sinne, und die große freude an diesem reichtum.  die verschiedenheit der dinge ist sowas wie ihr ankerpunkt in der sammlung, ein energieknoten, darüber gehen dann die türen auf in die vielen erscheinungsformen von volkskultur.

hat sie es geteilt mit ihren lieben? ihre männer hat sie immer geteilt, teilen müssen, die wollte sie nicht ganz, bei ihren dingen war das anders. sie hat uns manchmal schmuck zum anlegen gegeben, die krone bei david, oder ein schweres kollier, das mal kurz um meinen hals lag, aus afrika. sie hat diese sachen damit für einen moment auch wieder ihrem sinn übergeben, einen menschen zu schmücken und zu verwandeln, oder eine situation, und ich glaube, sie hat das mehr der sammlung zuliebe getan, ihr einen kurzurlaub im alltag gegönnt, und nur ein bisschen, um uns eine freude zu machen. schalen sollen gefüllt werden, bücher gelesen, mit löffeln soll gegessen werden.

der wert der dinge liegt auch in ihrer bedeutung im sozialen miteinander, oder in ihren repräsentativen eigenschaften, sie haben ein bein im symbolischen. wie die vielen dinge bei uns zuhause alle irgendwie nur auf uns zeigen, als familie oder status oder beruf oder persönlichkeit, vielleicht sogar die kunst, die ja eigentlich das andere ist, so wird durch die fülle und das disparate in ursel ziebarths sammlung die ganze zeit die tür aufgerissen und woanders hin gezeigt. mexiko!, südamerika! papua neuguinea! alles voller welt.

vollständigkeit ist etwas furchterregendes, oder nicht? könnte man eine sammlung wie die ihre abschließen, dann wäre die welt leer und die menschheit traurig. es gibt überall neues zu entdecken, neue geschichten, neue kunstfertigkeit, neue wunderbare figuren und gegenstände. auch wenn alle länder bereist waren, gab es  im ypsilon in der bayreuther strasse immer noch die chance auf einen glücklichen fund, einen neuen schatz. das sammeln ist eine lebensart, wie das leben geht die sammlung auch immer weiter, ursel ziebarth hat noch in der woche vor ihrem tod etwas neues erstanden. sammeln ist leben.

heute wurde sie beerdigt, es war sehr schön, ihre theaterfamilie hat sie verabschiedet, mit ansprachen und gesang, ihre freunde und alte berufkollegen waren auch dabei. bach und schubert. und eine trompete.

„… und jeder Ort ist hier.“ weiterlesen

tt18

Ab nächster Woche gibt es Tickets fürs Berliner Theatertreffen.  Beim durchsehen der Trailer will ich zwar schon wieder nirgendwo rein, alles so welterklärende Riesen-Projekte mit wirklich allen Kunstformen drin. Ich will bloss Theater! Nicht auch noch Tanz, Krach, Video, und „rotzige Stand-Up-Einlagen“ und so Kram, das wird doch nichts, sie sollten das, was sie können, gut machen, statt die Fassung zu verlieren im Versuch, der Reizüberflutung mit Reizüberflutung zu begegnen.

Auch die Pressetexte lesen sich wie aus Kunstkatalogen, zum Woyceck aus Basel:

„Es gibt atemberaubende Bühnensituationen, und das Verblüffende ist, dass die spektakuläre Maschine, die immer auch als Maschine sicht- und hörbar ist (…) eine ungeahnte Emotionalität freisetzt, eine Direktheit der Erzählung, der man sich schwer entziehen kann – über eine naheliegende Metaphorik hinaus, die das Maschinenrad und das Im-Kreis-Drehen implizieren und die freilich mit Woyzecks perspektivlosem „Immerzu“ exakt zusammenfällt.“

– Na danke auch, da muss ich ja Skigymnastik machen vorher. „Direktheit der Erzählung“ – ja, da steht einer und spricht, und du hörst zu, gleichzeitig, weil es live ist. Ach, ich bin genervt, dabei ist damit bestimmt bloss gemeint, dass die Erzählung „über die naheliegende Metaphorik hinaus“ weder ironisch noch sonstwie gebrochen ist, und ich mich, ohne auf weitere mitintendierte Ebenen zu achten, mit dem Gesagten begnügen darf, und mich nicht von den Metaphern ablenken lassen muss, auch wenn sie naheliegend sind, nein, weil sie naheliegend sind, und die Nähe zur Direktheit nicht entscheidend vergrößert verhindern (bin durcheinandergekommen).  Ich würde ja für eine gute Metapher jederzeit eher durchs Feuer gehen als für so einen Text.

Thomas Melles „Welt im Rücken“ ist dabei, ein großartiges Buch, aber ich habe mit Panikherz schon etwas ähnliches gesehen, obwohl der Ich-Erzähler bei Stuckrad-Barre kein interessanter Mensch war, der bei Melle schon. Die Wahnmomente sind halt leicht als Freiraum für lustige Einfälle zu mißbrauchen. Lieber die Odysse, oder?

Das einzige Stück ohne Video-Köder ist Mittelreich, in dem Schwarze für die Rolle von oberbayerischen Seewirten eingesetzt werden, „in der Tradition der Appropriation Art“ wird dem Stück eine Dimension hinzugefügt, die nicht vorgesehen war. Könnte interessant sein, oder auch gar nicht, heikler Pfad.

Als ob die Verunsicherung der Medien durch das Internet und des Films durch CGI mit einiger Verspätung auch im Theater angekommen sind. Andrerseits sind das eventuell alles nur Vorurteile, ich bin halt reif genug für spießigen Konservativismus.

Natürlich gehe ich hin.

ursel ziebarth ist nicht mehr.

frau ziebarth ist am 20. märz gestorben. die großartige, deren lebenshunger noch für weitere 100 jahre gereicht hätte. habs grad erfahren, ich habe letzte woche noch bei ihr geklingelt, weil ich sie zum theater abholen wollte. sie hat nicht aufgemacht. verabredet hatten wir uns 2 wochen davor, ich habe sie noch anrufen wollen vorher zur sicherheit, und sie ist nicht drangegangen. da war sie schon tot.

(mit ursel ziebarth im BE, festvorstellung zu ihrem 95. geburtstag. ich hab leider kein bild nur von ihr, und wollte mich nu auch nicht rausschneiden)

man könnte bücher über sie schreiben, aber das hat sie selber gemacht, über 2 dutzend, erst das letzte über ihre zweite heimat, nach der literatur und den menschengemachten schätzen, die sie gesammelt hat, endlich ein buch übers theater nämlich. das BE war ihr zuhause, bis reese kam, danach ist sie nicht mehr hingegangen, kann ich auch verstehen. das BE hat ihr eine echte ziebarth-gala gegeben zu ihrem 95., hermann beil, der dramaturg, hat mit seiner wunderbaren stimme aus ihren büchern gelesen in der box oben im theaterhof, herr müller hat ihr die treppen hoch geholfen und sie zu ihrem sitz gebracht, wenn sie kam, ein paar mal jede woche, jedenfalls solange peymann noch intendant war.

„was ist dein lieblingsbuch?“ war fast ihre erste frage, als wir uns nach meiner rückkehr nach berlin irgendwann in den achtzigern neu beschnuppert haben, auf vermittlung meines vaters. sie war mit ihm befreundet, der in den 60zigern mit ihr im DIW gearbeitet hat, und kennt mich seit immer, also länger als ich sie kenne. mein gefühl war so eine mischung aus respekt und ratlosigkeit, was  so eine alte dame (ich war jung damals) denn mit mir anfangen könnte, und ich mit ihr. ich hab damals bulgakow genannt, meister und margerita, und sie war einverstanden und hat mich auf eine atemlose weise sofort in ein gespräch über literatur gezogen. lesen schien überhaupt das einzig notwendige nach den treffen mit ursel ziebarth. „was liest du?“ war in den jahren danach immer ihre erste frage. die bücher, die ich ihr zum geburtstag schenkte, lagen oft schon auf oder unter dem tisch in ihrem zimmer, ihre bücherwand war voll bis zum letzten quadratzentimeter.

vor ein paar jahren hatte ich mich vergriffen, und ihr sterben geschenkt, von knausgard. „da hast du meine souveranität überschätzt“, hat sie gesagt, und es mir wieder mitgegeben. ich hab dann einen anderen band der reihe gebracht, sie: „das buch ist interessant, aber viel interessanter wäre es zu verstehen, was du daran findest.“

ach ach.

in meinen theaterjahren habe ich sie auf den premieren getroffen, nicht nur im BE, sie war immer da. aus respekt vor den künstlern, oder generell aus respekt vor dem theater an sich, wollte sie sofort nach dem schlussapplaus keine meinungen hören, anders als ich, bei der dann immer alles rausblubbert.

die kategorie futility passt nicht zu ihr, mit all ihrer präsenz. hab ich den haken wieder wegemacht.

sie war eine neugiernase, wollte alles genau wissen, liebes- und arbeitsdinge, familie, freunde und kinder, ich glaube, auch wegen ihres sammlertums, und weil auch die ganzen lustigen geschichten ja dazugehören, liebschaften, abenteuer, chefs, nichts irdisches war ihr fremd. ihr bild vom menschen und von ihren freunden umfasste eben alles, also musste sie alles wissen, damit der mensch ganz und wahrhaftig da war. oder? ach. wenn ich sie danach fragen würde, sie würde einen klugen und pointierten satz antworten, der das thema elegant ad acta legt.

david mit krone, bei frau ziebarth im okt 15

die söhne haben sie kennengelernt, einer figur in ihrer wohnung die ohren abgebrochen („kann man reparieren, aber passt jetzt lieber auf“), auf ihrem brecht-stuhl gesessen und fragen gestellt. zum glück.

ihre sammlung. was schön ist: angesichts ihrer persönlichkeit war die sammlung nicht mehr so wichtig, sie war ein teil von ihr, aber nicht alles. ich trauere um sie, denn sie ist nicht mehr da, ihre sammlung wird ein zuhause finden, aber ohne sie sind es nur noch sachen, die geschichten zu all den dingen, das herz und die seele der gegenstände, die waren nur in ihrem kopf. wie ihr eine bestimmte statue eingefallen ist, oder ein kleiner löffel, oder ein stein, und dann hat sie oft gesagt „wir können ebensogut mal schnell hingehen“, um die statue selber in der hand zu halten, den stein ans licht. was man anfassen kann, ist da.

die ganze weite welt hat sie bereist dafür, „aber jedes land nur einmal“.

ihr langes, in wilden dutts und zöpfen hochgestecktes haar, schwarz bis zuletzt. die schönen kleider, mit spiegelchen, aus indien und den ländern, die sie bereist hat. die männer, denen sie ihr herz geschenkt hat, über die sie auch ein buch geschrieben hat, und die sich glaub ich würdig erwiesen haben.

ach, ach. ich war mir sicher, sie würde den tod überlisten können. mit dem tod kann man ja nicht verhandeln, aber für jemanden wie sie sollte es sowas wie eine ehrenrunde im irdischen geben, damit alles sich von ihr verabschieden kann. sie war einzig. ihr tod zieht und zupft und zerrt an der welt, sie war überall verwurzelt und hatte diese tausenden kleinen anker der welt in ihrem zuhause. ich hoffe, du hast sie bei dir, und auch etwas von uns. eine liebende ist gegangen. möge die erde dir leicht sein, liebe muschi. sehr traurig.

 

edit: ein wirklich schönes portrait im tagesspiegel, von johannes laubmeier

ein arg kurzer nachruf im tagesspiegel vom 17. april

ein gefilmtes interview mit ihr aus einer videoblog-reihe, einen monat vor ihrem tod

open artificial pancreas system

2018 kann ich als diabetikerin die steuerung meines stoffwechsels einem algorithmus überlassen, muss das system dafür aber noch alleine zusammensetzen. irgendwann übernimmt das ein kleiner implantierbarer blutzuckersensor, der die insulinzufuhr durch meine insulinpumpe alleine regelt, selbstlernend und wasserdicht. bis dahin macht es das internet.

die menge an insulin, die wir brauchen, ist sehr wandelbar. der blutzuckerspiegel kann durch einen haufen faktoren erhöht werden und durch einige verringert, bei stress oder wut oder aufregung wird adrenalin ausgeschüttet, das erhöht den spiegel, alkohol kann ihn verringern. andere hormone verändern den bedarf auch, bei frauen östrogen und progesteron. es ist wie ein marionettenspiel, bei dem die länge einzelner fäden und das stück dauernd verändert werden, der patient ist dabei marionette und puppenspieler in einem.

ausgehend von einem alten, für die steuerung von kraftwerken verwendeten programm (lineare modellpräventive regelung) haben diabetiker1 in den letzten paar jahren ein programm entwickelt, das uns die entscheidung darüber abnimmt, ob wir jetzt weniger oder mehr insulin geben sollten. das projekt läuft unter #wearenotwaiting (weil es in den pressemitteilungen über großartige neue heilungswege immer heißt: in 5 jahren frühestens, und man danach nie wieder etwas davon hört) und ist ein open-source-projekt, es wird als offenes nicht proprietäres  system mit den erfahrungen seiner vielen nutzer gefüttert, so wie ich das verstanden habe. die initiatoren haben dafür auch einige alte insulinpumpen gehackt, die sich dann durch das programm steuern lassen2.

es läuft entweder auf einem ein-chip-computerchen wie einem rasberry pi oder einem intel edison (intel hat die herstellung leider eingestellt, eine alternative wird grad gesucht), oder in einer app auf dem handy, je nach benutzter pumpe. alte pumpen wie meine, von 2006, haben eher funk. die anfunkbaren brauchen den eddy (kann funken) oder den rasberry, die neueren sind auch über bluetooth erreichbar. das programm gibt dann der insulinpumpe signale wie „weniger insulin“ oder „mehr insulin“ für den zeitraum x, bis mein idealer blutzuckerspiegel erreicht und gehalten wird. die entscheidungen fällt es anhand meiner blutzuckerwerte, die ich über ein cgm-system (continous glucose monitoring) sammele und irgendwie ins programm einspeisen lasse, alle 5 minuten. wenns läuft, ist es ein closed loop, und macht uns also zu loopern.

das tolle an der sache sind die vielen parameter, die ich einsetzen kann. wie lang wirkt mein insulin, 3, 4 oder 5 stunden? wie schnell baut mein körper es ab? wieviel insulin brauche ich zum essen, morgens, mittags und abends? wie hoch ist heute meine resistenz, brauche ich also zur korrektur mehr oder weniger insulin als sonst? der ganze kram läuft in diabetikerköpfen dauernd ab, ein bisschen wie bei einem koch, der sein rezept immer neu zusammensetzen muss. und wenn so ein ordentlicher pasta-pizza-torten-kloß manchmal erst morgens um 4 richtig im blut angekommen ist, lieg ich im tiefschlaf, aber openaps fängt dann die werte auf.

neulich sagte jemand, dass hinter jeder app viel mehr arbeit steckt als ersichtlich, hier sind wir als ein haufen betatester alle von anfang an dabei. ich bin schon die nachhut, die gar nicht coden kann, fühle mich aber an msdos-zeiten erinnert, wo trial and error dazugehörten und das funktionieren nur eine option unter anderen war.

gestartet bin ich über die wunderbar gehaltenen anleitungen im netz, deren größter vorteil die methode idiotensicher und c/p ist. sogar das drücken der enter-taste wird erwähnt, was sehr hilfreich ist, wenn man keinerlei ahnung hat. auf github habe ich ja am anfang nichtmal die verben und substantive verstehen können, inzwischen habe ich eine ungefähre ahnung, mehr nicht, aber hey, es funktioniert. das programm selber wird dauernd aktualisiert, er wird ständig angepasst und weiterentwickelt, inzwischen kann man sogenannte microboli geben, also insulin in sehr kleinen dosierungen, wenn bestimmte kriterien erfüllt sind, das programm kann die basalrate meiner pumpe überprüfen und korrekturen vornehmen bzw. vorschlagen. weil ja jeder körper eigene bedürfnisse hat.

ich verwende das system seit 2 monaten, davon lief es vielleicht 2 wochen, nicht durchgehend. an seiner peripherie liegen die blutzuckersammelmethoden, die auch alle einen selbstgebauten teil haben. viele daten müssen da dauernd wandern, deshalb hakt es häufiger mal, da ist eine bluetooth-verbindung unzuverlässig, oder der wechsel zwischen wlan und g3 klappt nicht, oder man ist in brandenburg, oder hat einen haken in einer der apps falsch gesetzt. die bausteine fürs cgm sind anfällig für fehler, und die syntax für das openaps hat auch bugs, oder ich hab irgendwas falsch copypastet. wenn es nicht lief, mußte ich früher immer das ganze system neu aufsetzen, inclusive handy-reset.  jetzt frage ich auf gitter oder facebook direkt bei den entwicklern nach, schildere mein problem so deutlich wie möglich, durch kopieren der diversen logbücher, und erhalte meistens in kurzer zeit von irgendwo auf der welt hilfe, die ich nach längerem nachdenken auch verstehe. nach einigen tagen hatte ich den wirklich befriedigenden eindruck, die welt bestünde aus diabetikern.

die zahl der downloads der verschiedenen typen an closed-loop-software hat sich in den letzten wochen verdoppelt auf ca. 1000, in deutschland sind wir um die 50-70, das sind noch nicht so viele, aber es fühlt sich in der szene schon ein bisschen nach einem hype an. ich merke den diy- anteil daran sehr deutlich, je mehr coder an einem teil des systems beteiligt waren, desto sicherer und runder läuft es, es ist wie ein ameisenbau mit vielen spezialisten, man meint das vergnügen zu spüren, das programm so komplex wie nötig gestalten zu können, and then some. beim anpassen der hard- und softwareteile bleibt oft kein stein auf dem anderen. es geht schnell und die leute sind gut.

die verwendung der aps-systeme ist 2018 noch eine juristische grauzone, ein diabetologe darf die sache nicht weiterempfehlen oder bewerben, er kann nur darüber informieren. find ich doof, schließlich sind wir es gewohnt, verantwortung über sämtliche therapeutischen maßnahmen alleine zu tragen, inclusive der menge an insulin oder kohlenhydraten, die wir uns geben. der minipankreas wird ja vom benutzer ans seil gelegt, er darf unter anderem nur bis maximal x einheiten insulin dazugeben, und so weiter. im nebeneffekt muss ich meinen stoffwechsel noch einmal sehr genau analysieren und dokumentieren, als grundlage für das programm, weiß also mehr über mich und nicht weniger, wie man ja bei automatisierungen annehmen könnte. und es macht spass.

1 die ersten waren 2015 dana lewis und scott leibrand, beide immer noch sehr aktiv dabei. in d hat saskia wolf das loopen in bewegung gebracht.

2 in der pumpentherapie wird die für den grundbedarf des körpers täglich benötigte insulinmenge basalrate genannt. der bedarf ist je nach tageszeit verschieden hoch, und  ist für jede stunde oder halbe stunde in die pumpen programmierbar. alles, was ich zum essen brauche, gebe ich als bolus in die pumpe ein. wenn man mal wegen hormonen oder krankheit oder party oder what not mehr oder weniger insulin über einen längeren zeitraum benötigt, stellt man sich eine temporäre basalrate ein. auf die steuerung dieser temporären basalraten hat das programm zugriff.

 

50-60kg

im letzten sommer unter den überwiegend schlanken bis mageren italienerinnen meines alters am strand zum ersten mal seit meinen frühen zwanzigern unpassend gefühlt, anders. habe so ein blaues langes leinenkleid für den strand, es fühlte sich nicht mehr elegant und luftig an, sondern raumgreifend bis enorm vor all den t-shirts und engen kleidchen um mich herum. es begann mit einem blick: als jemand einen witz über eine cicciotella machte, sah die freundin mich kurz entschuldigend an, an diesem blick hab ich mich zum ersten mal mit ihren augen gesehen, sie, die man mit drei händen umfassen kann, und war erschrocken. die wertenden kriterien in meiner körperwahrnehmung betrafen in den letzten 30 jahren nur änderbares, friseur ja/nein, nägel manikürt oder nicht, kleidung passend/unpassend oder schön/langweilig. die schönheit es körpers war gegessen sozusagen. mit diesem blick war sie wieder im raum, als dichotomie, ich wurde auffällig, die kategorie ‚gewicht‘ kam damit über mich wie eine mückenplage oder ein quallenkontakt. aus dem nichts. ich hab dann noch am meer drauf geachtet, wie bewußt das thema gehandhabt wird, wie öffentlich es ist (gar nicht), es läuft so mit, das wahren der jugendlichen fasson ist wie das atmen und schlafen, selbstverständlich und leise,  es bedarf keiner kommentare, ist längst verinnerlicht worden, bis der letzte rest appetit weg ist, niemand isst noch etwas, salat und dietcoke füllen die mahlzeiten. ob der körper dadurch dauernd anwesend wird? oder verschwindet er hinter seiner symbolhaftigkeit als erotisches objekt? vielleicht so, wie mein blutzuckerspiegel in meinem bewußtsein herumlungert, ein meßsystem, vor dem ich jede empfindung abgleiche, unterhalb des bewusstseins. der zu dünne körper ist in seinen bedürfnissen zum verstummen gebracht, als symbol spürbar wie eine art halo über dem körper aus fleisch und blut. wie ein geschmeide von bulgari. wie konnte mir das jahrelang nicht auffallen? freundin erzählte gestern davon, wie dünn die frauen überall sind, wie üppige büffets bei veranstaltungen unangetastet stehenbleiben, wie sie nur salate essen, nur noch trinken tun sie, aber weniger als die männer, die darin maßlos werden können. die statur vermittelt vielleicht so eine diffuse zugehörigeit zu denen, die dazu gehören, völlig unberührt von feministischen und historischen diskursen und realitäten. je wichtiger und größer diese frauen beruflich sind, desto kleiner und harmloser sollte ihr körper aussehen, wie eine entschuldigung (das ist ein gemeiner gedanke aus dem sommer, in dem der text entstand, weiß ich, und vermutlich nicht frei von neid). mir ist das in meiner auch beruflichen abgeschiedenheit gar nicht aufgefallen, auch weil mein körper fast immer das ganze ich ist, mit entspannten 70kg, und ich schon ewigkeiten an keinem rennen mehr teilnehme.

es ist anders, es gibt wirklich diese menge an dünnen frauen, erst meine eigene normalgewichtige körperlichkeit bringt mich zum lästern, oder? „bei datingbörsen heißt ’normal‘ immer ‚fett'“, sagte mir neulich jemand. dann lach ich drüber, elegant verschiebt sich mein innerer bewertungsapparat wieder weg vom kriterium wenig gewicht auf die art schönheit, die ich selber sein kann. mein diabetes läßt mich ja eh in einem zahlenkäfig leben, das sollte genügen. maybe baby!

(die frauen nehmen die männliche sehnsucht nach der schmalen maid auf sich, als wäre es nichts, jahrelang, und werden dann irgendwann alte mädchen in einem kosmos traurig trinkender alter männer.)

das urteil trägt man trotzdem herum, es ist ein binärer code, das |false| macht unsichtbar fürs gesellschaftliche begehren (den leise anerkennend nickenden neid), oder für die immaginäre nebenei-selbstbestätigung im schaufenster, das reicht ja schon als stein im schuh. vielleicht nicht fürs sexuelle, but who am I. dünnes eis. es ist müßig, diese kriterien zu kritisieren, sie unterliegen keiner bewußten entscheidung.

die ewige aufgabe der normalen frauen, nicht um schönheit zu trauern. schöner gesagt: Wo mehr ist, muss ich womöglich mehr lieben.

verrückt. (brauche mal wieder ein paar nächte, glaub ich)

edit: grad noch ein strandfoto vom letzten sommer gesucht. auf allen waren gleichviel runde wie eckige frauen zu sehen. wahrheit oder pflicht?