kirill petrenko beim silvesterkonzert

kirill petrenko hat sein orchester gefunden. ein aufregender abend, mit broadway-musik, die ich zum ersten mal richtig gehört habe, es hat sich angefühlt wie: zum ersten mal überhaupt gehört. mit petrenko klingen gershwin und bernstein komplex und schillernd, grad die bläser und das schlagzeug hatten eine selbstverständliche feinheit und genauigkeit, wie ein puzzlestück, das zum ganzen dazugehört und trotzdem eine eigene, unterscheidbare schönheit hat. ich hab sie wahrgenommen, aber das gilt fürs ganze stück, keine ahnung, wie petrenko das bewerkstelligt, die musik wie besonders scharf gezeichnet. arbeit an den tempi und einsätzen? wie eine dieser bildserien von fraktalen, wo der fokus vom ganzen immer tiefer ins detail saust, und dabei in seiner genauigkeit nicht nachlässt. es ist alles so fein und klar herauspräpariert. das konzert war dabei fröhlich und sehr lebendig, petrenko schwingt die ganze zeit, lächelt, tanzt seine interpretation beim dirigieren vor, als würde er nur zuhören, nicht selber dirigieren. er wirkte fast selbstvergessen. die arbeit hat vorher stattgefunden, er soll als arbeitstier intensiv proben vor den aufführungen, beim konzert sieht es nicht mehr wie arbeit aus, eher wie eine feier der musik. sehr schöner abend. 3 zugaben, x vorhänge, er bedankt sich jedesmal bei den solisten und der sängerin, diana damrau, die als solistin mit den gesamten philarmonikern im hintergrund frei und souverän gesungen hat. es waren wirklich alle auf der bühne, 3 saxophone sind noch dazugekommen, eine junge paukistin mit riesiger trommel, ein vibraphon, pauken, eine harfe, es war alles dabei.

auf die sopranistin hab ich bisschen zuwenig geachtet, saß mit meiner mutter im bereich E, seitwärts vom orchester, mit blick auf den dirigenten, die sängerin hat mehr nach vorne zum publikum gesungen.

ich wusste nicht, was anziehen, habe keine elegante kleidung mehr. der große meinte zu meiner auswahl: irgendwie leger, aber man solle ja der bürgerlichen übereinkunft nicht immer folgen, da habe ich widersprochen, ich ziehe mich auch zu ehren der musiker vorher um. die bürgerliche übereinkunft empfinde ich inzwischen als eine recht tröstliche angelegenheit.

neben mir saß eine ältere dame in einem bodenlangem, mit gold und silber bestickten kimono, sie saß die ganze zeit aufrecht vorne an der sitzkante, wegen der großen schleife im rücken. ihre familie ebenfalls elegant, aber nicht so klassisch. es war ein internationales publikum, viele sprachen in der pause gehört, habe ein paar kimonos gesehen. eine japanische familie ist nach dem konzert, als die musiker gingen, nach vorne gekommen, um dem sohn am fagott zu gratulieren, mit daumen hoch und beifall.

julian lage in dresden

zum ersten mal im jahr richtiges novembergefühl bekommen, einen schal zu wenig dabeigehabt. durch den zwinger gelaufen, an der semperoper vorbei in die altstadt von dresden. wenig los, ein paar japanische reisegruppen waren aber unterwegs, lauter junge sehr geschminkte leute mit selfiestangen. zuletzt in dresden war ich 2005 mit meiner mutter, zur weihung der frauenkirche, mit einem te deum von matthus, auch damals eher musikzentriert und wenig tourismus, hab alles wiedererkannt, nur in die eigene topographie überführt. die barocke pracht in der altstadt wirkte befremdlich, als ich aus den neubauvierteln hineingelaufen bin, sie ist aber so massiv und stilistisch geschlossen, sie kann sich behaupten. nach dem albertinum, der kunstakademie, dem schloss wundert einen gar nichts mehr, dann der blick über die elbe auf die andere glitzernde flusseite. hab den jungs gesagt, sie sollen doch mal kunst in dresden studieren, dann könnte ich dauernd atelierbesuche machen. abends auf freund g. gewartet, g.-zwillings patenonkel, der am dienstag zufällig in dresden war und erfreulicherweise mitkommen wollte.

der jazzclub tonne ist ein schöner, großzügiger keller unter dem kurländer palais, saniert und bischen gediegen. gleich ins gespräch gekommen mit anderen besuchern, wie bisher bei jedem dieser konzerte, stimmung gespannt. er fängt sehr zenmäßig an, mit ganz langsamen richtungslosen läufen in der untersten möglichen oktave, man hört die collings tief und warm summen dabei, es gibt ewig keine auflösung, nur gelegentlich ein paar kleine harmonische kleckse, es ist eher hermetisch. da weiß einer, was er tut, und ich kann es begreifen, ohne es verstehen zu wollen, auf eine warme weise. nice sounding room you have here, fand lage nach dem ersten stück, das gewölbe macht den ton voller und gibt dabei wenig hall. er spielt solo, aber er hat natürlich seine ganze musik dabei, feine, schnelle, läufe „er erfindet die“, sagt meine nachbarin, selber musikerin, ich glaube im sinne von „noch nie irgendwo gehört“, das macht sie wiedererkennbar, sie sind unterscheidbar.

er spielt einiges von seiner solo-cd world’s fair, 4 jahre alt, er hat es noch nie öffentlich gespielt, sagt er nach dem ersten stück und wirkt dabei fast neugierig auf das, was herauskommen wird. er spielt nach dem ersten stück mehr fürs publikum, ich erkenne nocturne, eingebunden in ein anderes stück, day and age. das letzte hab ich nicht erkannt, er sagt fast alle titel und nennt die songschreiber, versteh sie nur nicht alle. ist ja auch egal, day and age geht mir aber als titel nicht mehr aus dem kopf, das kann man sich auf den spiegel schreiben und jeden morgen davor seufzen. er spielt die motive ganz frei und schiebt sie durch die lustigsten tonlagen, ein paar noten lang, dann verschwinden sie, bis sie sich zum ende hin wieder glücklich fügen. viel blues dabei – wie nennt man das, wenn jemand eine form mühelos beherrscht, damit spielt, sie nicht zu ernst nimmt (es gab lacher im publikum), und dabei trotzdem so etwas wie hingabe zeigen kann? im spielen immer wieder so kleine inseln, die sich anhören wie bach.

die stücke waren lang, er hat sie in jede varianz ausgespielt, hat dazu manchmal gesungen oder gebrummt, hat ein paar sätze gesagt zu den songs, war als person hinter seinem instrument sichtbar, anders als bei den konzerten mit band. dabei immer so, als wären wir zufällig bei ihm vorbeigekommen, während er grade spielt, und hätten uns ein  bisschen dazugesetzt, please, take a seat, I’m with you in a minute, und dann sagt er ein paar sachen, damit wir uns als publikum nicht vernachlässigt fühlen, während er tut, was er immer tut. na, vielleicht übertreibe ich das jetzt nach ein paar tagen etwas, aber er klingt so, als wäre das spielen seine sprache, als würde er dauernd so spielen, egal, ob mit oder ohne publikum. faszinierend.

als zugabe gab es ryland, dass auch auf world’s fair schon als solo-version zu hören ist, lage hat sich damit zeit gelassen und uns nochmal 10 minuten mit ihm geschenkt. viel intensiveres erlebnis als die anderen konzerte, weil lage so frei durch seine musik flottieren konnte, keine anderen instrumente oder konzepte im raum waren. nach 2 stunden konzert und noch einem bier sind wir durch die leere stadt zu unseren hotels gelaufen. lage ist leider nicht mehr in den saal gekommen, musste meine love hurts – cd unsigniert wieder mitnehmen. next time!

 

fanfriction*

john krasinski ist ein mann, bei dem ich an fanfiction denke. es gibt ja viel davon im netz, nie reingesehen, warum eigentlich nicht? vielleicht weil es meistens erotische geschichten sind, und sowas lese ich nur in zeiten der not, und selbst dann mag ich grade das nicht identifizierbare an den figuren, die völlige offenheit für eigene projektionen. gibt es kluge, besser: lesbare, nicht erotische fanfiction? am selber schreiben hindert mich der fiction-teil, meine ganze phantasie wäre dann glaub ich gefangen im moment der überwindung der unwahrscheinlichkeit einer solchen geschichte, durch diesen aufwand wird das objekt der fiction eher glorifiziert als erzählt.

jedenfalls einer dieser männer.

*nicht so gemeint, aber passt im weiteren sinne.

minus vier stunden

das wochenende ist bald vorbei, es war so schnell, es hat nicht stillgehalten, es wollte weiter, es war so bunt und hatte viele zeilen in der wunderlist, aber gestern, da gab es eine stunde göttlicher weite, eine plane stunde am frühen nachmittag, da haben sich die minuten gedehnt, da war kein ende in sicht. ein wochenende voller schöner begnungen, mit einkäufen, hunderunden, hausputz und paar stunden jobdingen, kampf mit der bahnwebseite, das verdient extra-erwähnung, weil es sich in jeder minute nach gestohlener zeit anfühlte. gute freunde gesehen, sehr gute pizza gegessen, zu spät schlafen gegangen, zu früh aufgestanden, wieder freunde gesehen, gleich leserunde mit tollen frauen. freue mich auf die einzwei stunden leeren vor-sich-hinguckens später, kurz vorm einschlafen, im bett, fast dunkles zimmer, vielleicht spiele ich solitaire oder lese einen krimi, keine nachrichten bitte.

lichter, gedenkfeier

schon wieder in der kirche gewesen, diesmal eingeladen unter schweigepflicht. die kirche sollte voll werden, was einem abend um 18 uhr unter der woche nicht einfach ist, es waren aber wesentlich mehr menschen da als neulich am sonntag, weil die idee ganz schön war, nacht der lichter, zum gedenken an den 9.10.1989, als die ostler in der gethsemanekirche zuflucht gefunden haben vor der draußen prügelnden stasi. die frau neben mir ist dabeigewesen und erzählt, wie sie über den zaun aufs kirchengrundstück geklettert ist, und es ist ein zaun mit sehr spitzen stäben, der ist dem d.-zwilling und mir aufgefallen, als wir zum nebeneingang gelaufen sind, weil der haupteingang blockiert war, „adrenalin war das“ sagt sie, und wie sie nicht wusste, was da grade passierte alles. eine frau im rock mit leopardenmuster und passendem tuch, blodes haar, roter lippenstift, verteilt programme. es ist auf den letzten drücker noch fast voll geworden.

die pfarrerin jasmin el-manhy begrüßt uns, dann liest eine schauspielerin, deren namen ich vergessen habe, aus einem buch über den herbst ’89 in der gethsemanekirche vor. „wachet und betet“ stand damals draußen an der kirche, eine nicht unmittelbar politische, aber doch klar verständliche einladung zur aktivität, zur aufmerksamkeit, zum widerstand, wenn auch im gebet. die kirche war an dem abend voller menschen, dicht gedrängt sitzen und stehen sie im raum, ein foto ist auf einem großen schicken bildschirm zu sehen. el-manhy liest einen psalm, der mir gut gewählt erscheint,

weil in der der ersten reihe angela merkel sitzt (drei reihen vor uns, so nah komm ich der macht nie wieder. sie trägt bordeaux). nach einem lied lesen jugendliche aus tagebüchern vor und verbinden den damaligen widerstand, der tatsächlich zu einer revolution geführt hat, mit dem heutigen, der mindestens zu einer wende führen muss. einer der jungen leuten sagt dabei ein paar zeilen, die der bischof, der natürlich auch da ist, in seiner kurzen rede („ansprache“) wieder aufnimmt, sie mussten protestieren, weil sie es für richtig hielten, diese konzentration auf einen zentralen menschlichen aspekt bei der wende, die gemeinsamkeit, dass es allen zuviel wurde, dieses geheimnisvolle kippen der verzweiflung und unzufriedenheit in die gewissheit, jetzt etwas tun zu müssen. er verbindet es immer wieder mit der heutigen lage, das wort selbstwirksamkeit fällt ein paar mal, meine ich zu erinnern. man spürt seine große betroffenheit über das attentat in Halle, „am jom kippur“, er erwähnt es mehrfach.

immer wieder sehr höfliche ermahnungen, auch in gebetsform, doch bitte irgendwas zum erhalt der schöpfung zu tun, sicher auch an die kanzlerin, aber eher indirekt. es dauerte knapp über eine stunde, am ende zünden alle eine kerze an und singen dabei, in einem sehr leichten und eigentlich in seiner vielstimmigkeit gelungenem kanon „dona nobis pacem“, während die kanzlerin mit mann und herrn platzek und herrn de maiziere und ein paar agenten die kirche wieder verlässt. ich denke, sie wollte aus eigenem antrieb herkommen, sie war ja schließlich dabei, im oktober 1989, in der gethsemanekirche. schade, dass sie nichts davon erzählt hat, notfalls impromptu.

keine öffentliche ankündigung und also auch keine öffentlichkeit. kameras waren aber dabei, mal schauen, vielleicht kam es irgendwo. eigentlich ganz gelungener abend, findet die gemeinde, ich mochte auch das nüchterne, nicht hochkandidelte. paar lieder, paar gebete, paar texte, kein brimborium. sehr protestantisch.

veränderung

sie haben einen großen modernen kinosaal in der anlage, einen 12m-pool, eine offene bibliothek mit tischen, lampen und einem relativ aktuellen katalog. die wohnungen („appartments“ sagen sie dort, das große ganze immer mitintendiert) sind zwischen anderthalb und drei zimmern groß, der speisesaal ist schön eingerichtet, die richtigen lampen, sehr freundliches personal, geradezu fröhliches personal. die älteste bewohnerin ist 106, sagt uns die frau, die meiner mutter alles zeigt, die jüngste mitte sechzig, der schnitt liegt beim alter meiner mutter, bei 85 jahren, das ist nicht ohne, nicht ohne, wo ich selber doch nur einen menschen in dem alter kenne. wir bleiben zum mittagessen. die bewohner auffallend elegant, mit gold und silber geschmückt, feine wolle, die männer in sakko und hemd, einer im lodenjanker, weißes haar, niemand färbt es sich noch ab alter x. meine mutter ist noch eher blond, vielleicht ist das ein einzugsritual, der abschied von der vergangenheit? ist nicht mehr und wird nicht mehr werden. paar rollatoren, „aber die sind dann auch schon 20 jahre hier, sind hier alt geworden“, paar rollstühle. mich würde glaube ich die ganze eleganz stören, das gediegene, ich empfinde das als zur schau gestellten wohlstand, ein auffälliges gleiche-unter-gleichen, vielleicht nur, weil ich nicht dazugehöre mit meinem einen kaschmir im regal, diese menschen haben halt einfach kein h&m im schrank, die können sich das ja nicht aussuchen, nicht mehr aussuchen, ihr leben hat die feine kleidung hinter ihnen angehäuft. sie kennen es nicht anders. die frauen sehen interessant aus, ihre verschiedenheit fällt mir auf, sehen sich doch alte leute oft ähnlicher als jüngere, weil ihr alter das erste wahrgenommene ist, von meinen zarten 50plus jahren aus betrachtet. ich bilde mir ein, ihnen ihre guten leben ansehen zu können, weiß aber nix natürlich. vielleicht waren sie einfach besonders schön, und nicht besonders interessant, im alter fällt das ein bisschen ineinander. sie bringen bestimmt einen großen teil ihres lebens mit, wenn sie in so einen alterssitz umziehen, und müssen viel zurücklassen, wie das eben so ist.

ein bisschen kreuzfahrt war das heute, wo die leute aus ihren kleinen kabinen immer in abendgarderobe erscheinen.

meine mutter passt da hinein und wieder nicht. „diese ganzen alten tanten“, sagt sie, es fällt ihr aber dann noch auf, dass sie selber dazugehört. männer gibt es deutlich weniger. ihre berufe kann ich frauen und männern nicht ansehen, kann ich aber bei gleichaltrigen auch nicht gut. ein mann sieht noch ein bisschen nach baumogul aus, auch wenn der körper hinter dem dominanten kinn schon zu verschwinden beginnt, bei damen würde ich nie nach baumogulinösem suchen, da sehe ich eher akademische berufe. die paare unterhalten sich miteinander, nicht alle, einige reden nur einen satz zum menue. die menschen sind ja zuhause dort, ich weiß nicht, ob der repräsentative anteil der eigenen existenz in den hintergrund tritt, wenn man jeden tag im restaurant isst. finde ich interessant, welchen preis so eine normalität hat, sicher hält es die leute auch beieinander, wie jedes ritual.

eine bekannte, die dort schon lebt seit ein paar jahren, rät meiner mutter zum hinwarten, vermisst ihre wohnung und vielleicht auch die realität, oder sie ist ihre einsamkeit dort nicht losgeworden, und dann ist das endgültige noch dazugekommen. es hängt vielleicht davon ab, wie wichtig das zuhause für die identität ist, wie sehr man die sehr pragmatischen grundrisse und die neubauödnis wahrnimmt im lebensalltag. wie es einem geht vorm umzug. aber schöne holzböden auf den balkonen.

ich will dauernd „im alter“ schreiben: so ist das eben im alter, weil darauf alles hinausläuft, so einen lakonismus, die akzeptanz des todes. die zimmer werden frei, wenn jemand gestorben ist, das wissen ja alle, da zieht keiner mehr aus, da sind sich alle bewohner gleich, vielleicht werden sie deshalb alle mit namen angesprochen, bei jeder begegnung, weil angesichts des großen gleichmachers der namen ans leben als einzelner und einziger erinnert, das die menschen ja hier auch noch leben, zu ende leben, päng, da ist er wieder, der tod. dieser aspekt macht mir auch noch schwierigkeiten, glaube ich, dass die mutter als ewige präsenz an einen ort umziehen will, an dem nix mehr ewig währt. ihr sicher auch, bei aller norddeutschen resolution. das verfliegt aber auch wieder beim dort herumlaufen, sobald man sich daran gewöhnt hat, im alltag ist eh mehr gegenwart, das ende fern wie immer. bei abwesenheit von schmerz und not, natürlich. oder nicht? bin ich gespannt drauf.

„sie denken darüber nach, sich zu verändern?“ fragte die mitarbeiterin und rät zur baldigen entscheidung. wenn man schon pflegestufen hat, wird man wohl nicht mehr genommen, lieber sind ihnen aktive senioren, die die arbeit des kulturrates zu würdigen wissen, ende des monats kommt walter momper und erzählt von der wende, ein film mit burt lancaster wird gezeigt, es gibt lesungen und konzerte. eine wasserreise und eine landreise pro jahr, „sehr begehrt“.

 

will ich nicht lassen

wollte mit dem einen inhäusigen sohn was unternehmen, wir haben aber beide nur vormittags zeit, also mal wieder kirche, schlägt er vor. wir kommen fast zu spät, die türen stehen offen, wir setzen uns in die letzte reihe. eher leer, aber in jeder reihe sitzen ein paar leute, gut verteilt mit großem abstand. eindruck: jeder geht für sich in die kirche. paare und einzelne gleich oft, auch die paare mit einem meter dazwischen. der ablauf ist bekannt, wir kommen bei einem psalm, gelesen von entweder einem gemeindemitglied oder einem pfarrer, er liest ein bisschen zu schnell und unbetont, verstehe nicht alles. die akustik ist in gethsemane sehr hallig, auch bei der eher schnell spielenden orgel kann ich den melodieverlauf nicht klar erkennen, die gemeinde brummt halt so mit, immer ein bisschen hinterher. junge pfarrerin mit duschfrisur, liest die jakobspassage, der predigtanteil ist für mich nicht so interessant, sie wiederholt die zeilen mit eigenen worten, in „einfacher sprache“, und setzt rhethorische ausrufezeichen dahinter, bleibt aber ganz im gleichnis, sucht keine metaebene oder eine anbindung an welt oder geist. zu sehr ist das nicht toll? das ist doch toll!, mir fehlen spiel und intellekt. die passage wird auf einen aspekt runtergebrochen, der dann suggestiv wiederholt wird, also verzeihen und gnade. oder güldet das als eine dem gottesdienst angemessene demütige haltung? nichts eigenes, ganz nah am bibeltext? kenn ich mich nicht aus damit. so ein kleiner anteil erbauung darf aber ruhig dabeisein, wenn man sich schon direkt nach dem frühstück in die kirche begibt. ein schönes lied war dabei, eg 365, und über den segen freue ich mich auch jedesmal. vorgenommen: wieder mehr predigthopping.

(sie können hier über paypal etwas in die trinkgeldbüchse werfen, wenn sie möchten. das hotel mama hat auch einen wunschzettel. vielen dank dafür!)

dialog, interview und verhör

heut früh lese ich in der kurzbio von carofiglio, dass er als staatsanwalt  im dienst gegen die mafia einen text über das richtige verhören geschrieben hat, jetzt sehe ich die netflixshow criminal, in der man genau solche techniken beobachten kann und würde den text gern mal anlesen, und siehe da, es geht – nee, natürlich nicht, aber wär nett gewesen.

die show ist klar und spannend, die habe ich durch, bis il paradosso del poliziotto hier ankommen würde.

(der titel vom posting ist sehr preposterous, aber da würde ich gern drüber lesen. in criminal kann man die übergänge beobachten, das rituelle daran, bekannt aus funk und fernsehen, vom smalltalk mit dem verdächtigen, in dem man stimmung und tonfall der polizisten kennenlernt, über das interview, in dem die polizei lebensdaten abfragt, der verdächtige kommt ins reden, fasst vertrauen, und wird so dem publikum vorgestellt. dann der übergang zum verhör, das machtverhältnis kommt dazu, es gibt jäger und beute, fallen werden gestellt, die spannung verschiebt sich. schönes kammerspiel.)

tempi passati

lese grade „la versione di fenoglio“ von gianrico carofiglio, wie alles von ihm sehr angenehm zu lesen, ein gespräch mit lauter unerwarteten wendungen und assoziationen, so eine spielerische intelligenz, dinge, die ein paar seiten lang wirken wie eine art surplus für den handlungsverlauf (ich hielt das buch für einen krimi), wie ein schriftstellerischer luxus, den der erfolgreiche autor sich leisten kann, bis ich merke, es ist gar kein krimi, sondern ein nachdenken über wahrheit und lüge, erfahrung und alltag bei der polizeiarbeit und, natürlich im leben überhaupt.

will es gleich dem großen schicken, aber es ist noch nicht übersetzt. oft wirken texte schön, klar und durchdacht, wenn ich sie in originalsprache lese, und werden wohlfeil und bisschen küchenpsychologisch, wenn ich sie auf deutsch vor mir habe, das könnte hier auch passieren, mal schaun, mal sehn.

eine stelle, in der ein vom smog braun gewordenes haus beschrieben wird („Il tizio abitava in una palazzina anni Cinquanta annerita da un velo di smog che dava un senso di grande malinconia.“, S. 41) – sofort bilder von mailänder smogtagen im kopf, von genau solchen häusern, dieses dunkle braungrau.

meine vergangenheit unterscheidet sich in allem von meinem jetzigen leben, sogar die sprache war eine andere. das ist gut, weil es den abschluss erkennbar macht, und befremdlich, weil das alte so unüberschrieben weiterexistiert, nicht vom leben neu besetzt wird. in solchen bildern erlebe ich mich als ganz jungen menschen, fast unverfälscht von sentimentalitäten, als wiedererkennen: so war es. alles äußere ist anders,  nur ich bin natürlich ganz unzeremoniös (da ist jetzt doch etwas sentimentales in dieser wortwahl) immer dieselbe.

ich habe bilder von angelina jolie immer gern angesehen, diese art von schönheit, die auch im dunkeln erkennbar ist, weil alles im gesicht so groß und ausdrucksstark ist. eine schöne frau, halbwegs engagiert, irgendwie in ordnung. grade über irgendeine doofe facebook-werbung ein interview gelesen, indem sie eine massive esstörung beschreibt („obsessed with weight loss“), ohne dass sie oder sonst jemand das so benennt, endend in werbung für eine von ihr vertriebene diätpille of all things, die den stoffwechsel in ketose versetzen soll, einen zustand, der in notlagen wie hunger und krankheit auftritt, und bei diabetikern zur ketoazidose führen kann, einer ernsthaften und lebensbedrohlichen stoffwechselentgleisung. sie verdient damit geld. unfassbar, ein paralleluniversum. bin doch ein bisschen enttäuscht, ich hielt sie für halbwegs intelligent, also nur soweit ich sie überhaupt für etwas gehalten habe. da hat ihr marketingexperte nicht aufgepasst. hoffentlich enthalten die pillen nur placebos und keine pharmakologisch wirksamen bestandteile, die wären unter umständen ordentlich gesundheitsschädlich. schon verschiebt sich die wahrnehmung von ’schön‘ zu ‚ausgemergelt‘, von außergewöhnlich zu einer von vielen, die von ihrem aussehen leben. vielleicht ist das für sie ja auch ganz erleichternd, endlich sein zu können, wer sie ist. schaudernd ab

gigi pedroli in laveno

von der strasse aus sieht man nichts, glatte fassade, l-form, eingang über einen kleinen hof. gegenüber vom vanoli, hat mir b gesagt, dem bei den jungs sehr beliebten eisenwarenladen an der hauptstraße. ich sehe ein schild und finde meinen weg, oben im ersten stock sieht man schon menschen stehen. drinnen ein palazzo, wunderschöne holzböden, neben dem saal zwei kleinere zimmer, aus dem saal ausgang auf eine art veranda, die auf einen park führt, der fast direkt und 100m steil den berg hinaufführt, strukturiert durch eine große filmreife freitreppe.

immer diese versteckten schätze! ich komme rechtzeitig zu den reden, gezeigt wird ein mailänder künstler, jahrgang 1932, mit vielen radierungen, stichen und zeichnungen und ein paar skulpturen. mich erreichen die sachen sofort, figurativ, kleine geschichten erzählend, ein bisschen wie incipits eines sehr schönen buches, zwischen 100 und 500€ kosten sie.

sie ähneln den arbeiten von enrico baj, den wir in mailand damals viel an der wand hatten, von einem kupferstecher aus dem bekanntenkreis vermittelt, und richtig hat auch pedroli eine druckwerkstatt mit schulungen und kursen an den navigli, im palazzo galloni, einem der ältesten häuser der stadt, es stand praktisch schon vor der stadt da, war herberge inmitten von wiesen, direkt am naviglio gelegen. er hat es ende der sechziger erstanden.

(ende des 15.jh wurde leonardo da vinci damit beauftragt, in mailand ein schleusensystem zu entwickeln, um die navigli als transportweg nutzbar zu machen. der marmor und das kastanienholz für den bau des mailänder doms wurden über das kanalsystem aus dem tessin auf großen flößen in die stadt geschifft, jeder kam dort vorbei, leonardo war dort eine weile zu gast, so sagt die legende, und hat im ersten stock des palazzo galloni die dame mit dem hermelin gemalt. das erfahre ich nachher vom bekannten, in den reden gab es nur elegante andeutungen, wie es sich ziemt im umgang mit diesen geschichten. pedroli hat die dame ebenfalls in einigene kleinen bildern angedeutet, man erkennt den halsschmuck und den ausdruck.)

getränke und imbiss gibt es im garten und auf der terasse, nachher erzählt mir der bekannte die geschichte des hauses, in dem eine alte dame bis zu ihrem ende gelebt hat, sie hat das haus der stadt vermacht, ein familienangehöriger hat das testament angefochten, der streit dauerte zwanzig jahre, in denen die villa leerstand. die stadt hat 2016 endlich gewonnen, mit der auflage, die villa für kulturelle belange zu nutzen. der freund hat sie bisschen modernisiert, mit einer kleinen gruppe von kulturleuten organisieren sie seitdem austellungen, lesungen, konzerte. ich kenne ein paar besucher, andere lerne ich kennen, vergucke mich in eine kleine arbeit (ich-hab-keinen-platz, keinen platz, keinen platz einself, und außerdem gibt es ihn auf ebay), schnorre eine zigarette und werde nachher mitgenommen in ein restaurant, wo wir alle noch ein paar stunden essen und weiterplaudern können.

android wear 1.5.

[das wird eher langweilig]

ein anderes projekt fordert vor allem meine geduld. ich habe eine sony smartwatch 3, die auf ein vorheriges os zurückgesetzt wurde, um auf ihr wieder nfc betreiben zu können, habe damit meinen libre sensor ausgelesen. das ist nicht mehr notwendig, ich könnte die uhr aber dazu verwenden, meinen pancreas-algo übers handy zu betreiben, dazu muss ich sie allerdings erst wieder von android wear 1.3. auf 1.5. bringen, was sich bei gerooteten uhren als eher komplex erweist.

jemand hatte vorgeschlagen, einfach den google play store auf der uhr zu ersetzen, aber das hat nicht funktioniert, immerhin hab ich beim versuch den respekt vorm umgang mit den nötigen anwendungen verloren und einfach drauflosgepusht. die uhr teilte mit, das update wäre nicht passend, erst dann ist mir eingefallen , dass eventuell auch all die leute, die solche tips geben, nicht immer genau wissen, was sie tun. die sony-companion-software weiß ebenfalls nicht weiter.

bisher habe ich hier ein ota-update (over the air-update) auf mein gewünschtes betriebssystem gefunden, und es übers terminal und mit adb auf die uhr bekommen, aber installieren kann ich das update leider nicht. irgendwelche sony debug build nummern sind falsch, weil die uhr ja gerooted worden ist, denk ich. vorher habe ich schon ein paar andere versionen versucht, die wollten aber auch alle nicht. rücksichtslos flashen, hab ich irgendwo gelesen, ich bin bisher immer rücksichtslos dabei gewesen, natürlich eher, weil ich keine ahnung habe, wo das eine aufhört und das andere beginnt.

was würde flash gordon machen?

kurz davor, über ebay irgendeine andere smartwatch zu kaufen, dann fällt mir aber ein, dass ich das ding eigentlich gar nicht wirklich brauche, weil alles übers handy genauso gut geht, ich das handy eh immer am leibe tragen muss etc. pp. aber im winter? denkt es dann, mit handschuhen und dicker jacke? es wäre nett, das zu haben, das genügt ja eigentlich.

natürlich mache ich das hauptsächlich, weil es mir spass macht, aber mein anspruch im umgang mit diesen dingen ist inzwischen ein hauch mehr als dabei-sein-ist-alles. ich könnte jetzt weitere stunden nach etwas unklarem suchen, aber muss ja nicht. habe mir sowieso vorgenommen, erfolg bei der lebensplanung mehr in den vordergrund zu rücken.

kurzfilm

blick auf den see vom eingang des museums aus

in einem kleinen ort am seeufer ist im vorletzten jahr ein kurzfilm gedreht worden, der in los angeles einen preis bekommen hat. das dorf eignet sich als drehort gut, weil alles wichtige an einen einzigen platz liegt, kirche, läden, der see, die beiden gassen und die straße, die auf den platz führen. bilder vom drehtag hier.

gestern war die uraufführung vor publikum, alle aus dem dorf sind gekommen, ein sehr eleganter älterer herr  im smoking, wohl aus der verwaltung, die wunderschöne schauspielerin (hui. zuwenig an hat sie auf den meisten bildern) im glitzernden abendkleid auf halsbrecherischen schuhen, der regisseur leger, die dorfbewohner in abendkleidung oder jeans. kulturleute der nächstgrößeren stadt, zwei frauen von eos, einer organisation, die sich mit dem thema des films beschäftigt und wohl als sponsor mitfirmiert, es geht um gewalt gegen frauen. die beiden sehr ähnlich gekleidet und aussehend wie mutter und tochter. vorher ein sehr leckeres büffet mit prosecco und feiner foccaccia, alles bei entrata libera.

der kurzfilm spielt in den vierzigern, 1. szene in der kirche, junge frau von hinten, weinend, mit einem messer in der hand. an der wand gentileschis judith und holofernes. schnitt, dorf, menschen im alltag der 1940er, mit spinnrad, ziegen, schuster, sehr süßen schmutzigen kindern, hunde, viel dorfleben. die junge frau aus dem ersten bild verkauft sizilianische canelli vom fahrad aus, ein älterer mann sieht sie, verfolgt sie nach feierabend, vergewaltigt sie, man hört lange ihre schreie. zum schluss wird die anfangsszzene in der kirche wiederholt, junge frau alleine, weinend, mit messer, eine alte frau kommt dazu, sie sehen sich an. laut wikipedia bringt die alte dame in der kirche die junge frau dazu, statt mit einem mord lieber mit einer anzeige zu reagieren, hab ich aber nicht erkennen können.

hmm, dachten wir. angekommen ist die verzweiflung und das alleinsein danach, wie unvermittelt es zu gewalt kommen kann, und die solidarietät unter frauen als einzig mögliche hilfe unter gewissen umständen. alle hielten reden, der regisseur stammt aus dem nachbarort und erzählt, wie sie innerhalb von zwei wochen film und dreh auf die beine gestellt haben, zeigt seiten aus dem storyboard, erklärt arbeitsschritte und bedankt sich bei den beteiligten, das war unterhaltsam und ganz spannend. am ende sprechen noch die beiden frauen aus der hilfegruppe, erzählen viel zu lang und ausführlich aus dem nähkästchen, wie die gewaltbereitschaft unter umständen schon im kleindkindalter gesäht wird, wie es dann in grundschule, oberschule, erwachsenenalter weitergeht, vor einem publikum, das offensichtlich nicht wegen ihnen da war. ausführlich. kann man machen, man könnte aber auch die chance nutzen, das publikum irgendwie anzusprechen, die eigene orga vorstellen, interesse wecken.

(eine alte dame neben mir wetterte die ganze zeit, dass sie sowas schon seit 20 jahren am fatebenefratelli (klinik in mailand) anbieten, und überhaupt, wer sei das hier überhaupt, nie gesehen hätte sie diese beiden. sie war bestimmt der einzige gast, der aufgrund des filmthemas gekommen ist.)

ambiente sehr schön, innenhof von einem altem museum, direkt an dem platz, wo der film gedreht wurde, unter freiem himmel, angenehme 25° unten, nachher mit den freunden noch ein bierchen direkt am see.