13. oktober 2020

sie sind voller energie, schlagfertig, schnell, sie gehen dauernd aus, wenn wir zusammen essen, reden wir im schnellen wechsel über alle möglichen themen, über alles, außer dem neuen, was auf sie zukommt, da gerät das reden listenartig, hast du das und das schon erledigt, ich zähle auf, worum man sich kümmern muss nach dem umzug, sie wollen es nicht hören, ja mama, alles im kasten. sie freuen sich, wollen los, werfen sich wieder und wieder ins netz, das sie hier hält. jeder schaut im zimmer des anderen nach, ob der irgendwas vom anderen mitnehmen will, pullover und hosen werden durchgesehen, g.-zwilling, der zuerst ausziehen wird, muss alles vorzeigen. d.-zwilling hat schon einen mathe-vorbereitungskurs, jeden vormittag, total doof, sagt er, weil er flüchtigkeitsfehler macht bei den aufgaben, und hat die angst schon vergessen, womöglich gar nicht mitzukommen. sie gehen zusammen tischtennis spielen, fast jeden tag, mit ein paar freunden, ihre tage scheinen nicht planbar, oder die pläne werden nicht an mich weitergegeben, andauernd ergibt sich noch etwas, das ganze jahr muss jetzt nachgeholt werden, so scheint es mir, und ich protestiere wg corona, aber nein, es sind ja die alten freunde, sagen sie, keine clubs oder großparties. einer geht sicher, der andere hofft noch auf eine zusage. ich wollte eigentlich noch irgendeinen rite du passage aus dem hut zaubern, aber das klingt nicht an bei ihnen, non risuona, es geht ja nicht mehr um mich ab jetzt. es ist ihr weg. den ritus brauche ich.

im freundeskreis erste bedenken über eine zukunft mit maske und ohne besuche. die argumente dagegen fallen mir leicht, es sind aber alles rationale und wissenschaftlich fundierte argumente, und die angst vor einsamkeit ist damit nicht zu erreichen. es wird andere wege geben, sich nahe zu sein, sage ich, aber man will doch die enkel umarmen und anfassen, sagt x, wie soll das gehen! und es gäbe ja auch in der wissenschaft verschiedene meinungen, sicher, sage ich, das ist ein kennzeichen von wissenschaft, dass meinungen sich ändern und in frage gestellt werden, aber es muss doch meine entscheidung sein, ob ich mich dem risiko aussetze, sagt x, es ist doch mein leben. ja, aber damit werden doch auch andere gefährdet, sage ich, nein, das sei ein missverständnis, sagt x, x sei ja bereit, ein bis anderthalb jahre keinen zu besuchen, aber für immer sei das unaushaltbar, besonders für alte leute. es ist nicht für immer, sage ich, aber das haben sie gesagt, sagt x, dass sich die situation bis auf weiteres nicht ändern würde, und man dürfe ja nicht mal mehr eine andere meinung äußern, dabei würde x das aus den achtzigern kennen, dass man debattiert, den diskurs sucht, in freundschaft, ohne gleich zum nazi abgestempelt zu werden. niemand stempelt dich zum nazi, sage ich x, so ein quatsch, wir reden doch gerade in freundschaft, und man wird sich einfach anpassen müssen an die neuen gegebenheiten, vielleicht vor besuchen eine woche in quarantäne gehen, oder sich testen lassen, und die masken seien doch nun wirklich kein drama. wenn es tatsächlich so kommt, dass ein neuer lockdown und das verbot von besuchen beschlossen würden, dann würde x auch demonstrieren gehen, sagt x. ich sage, aber dann demonstrierst du mit nazis, diese demos werden gekapert von rechtsaußen, das ist unentschuldbar, mit denen gemeinsame sache zu machen. x sagt nein, ich bin kein nazi, das kannst du doch nicht in einen topf werfen. hm, sage ich. x will dann eben eigene demos organisieren. wir schweigen eine weile, ich beruhige mich schon wieder, sagt x, ich musste das nur mal los werden.

im kern des gesprächs stand die angst vor einsamkeit, vorm verlust der sozialen und familiären kontakte, so mein eindruck, und die erkenntnis, dass eben für jeden andere dinge aushaltbar sind, und dass wir wege suchen sollten, diese ängste anzugehen, anzusprechen, auswege zu suchen.

3. oktober 2020

1987/88, als ich zurück nach berlin zog, hat mich der osten nicht interessiert. er war weiter weg als der ostblock, er war fremd, und es bestand keine aussicht, diese fremde vertraut zu machen, niemand wollte das, es war das große andere, und das würde so bleiben. die mauer stand für immer, daran muss ich denken in diesem schlimmen 2020, und versuche gar nicht erst, mir vorzustellen, was noch alles passieren könnte.

berlin war für mich westberlin, geburtsstadt, unistadt, aufregende kulturhauptstadt. in italien haben wir nichts gelernt über die ddr, die italienische linke war der ddr eher wohlgesonnen, aber niemand wusste genaues. meine klassenfahrten gingen nicht nach berlin, sondern irgendwo ans mittelmeer, nach neapel, und nach camogli bei genua, mit der besten foccaccia der welt.

ich habe zwei dicke smemorandas aus der zeit, ’87 und ’88, habe noch mal reingelesen, leider keine tagebücher von ’89. eine seite über die erste party bei franziska, in ostberlin, ich war begeistert von ihr, bisschen verzaubert, unsicher, mir fiel auf, dass die gäste schicker angezogen waren, dass ich ein bisschen herumstand, ich hab aufgeschrieben, dass die gastgeberin ziemlich früh ihre party verließ, um zigaretten zu holen, und erst um 23:30 wiederkam, als ich losmusste, was ich bedauert habe. sie war die freundin einer ostberliner cousine meiner besten freundin, habe sie auf einem tagesausflug mit der freundin kennengelernt und war ein bisschen am haken. die besuche waren eher abenteuer, wir hatten früchte und zeitschriften dabei, die manchmal an die grenzbeamten gingen, manchmal nicht. ananas, und ich meine mich an die mischung aus arroganz (ananas!) und unsicherheit (kommunisten stehen da drüber) zu erinnern, wenn wir die herzeigten am übergang. von den 25 mark zwangsumtausch haben wir uns meistens bücher gekauft, shakespeare-gesamtausgabe, hermann kant, anna seghers, weil man in den caffees nie mehr als ein paar mark loswerden konnte. im intershop war ich auch paarmal, fällt mir ein! da ging das geld schneller weg. habe nichts aufgeschrieben über die grenzübergänge, oder über den tränenpalast, die grenzkontrollen etc., die waren eben lästig, und über die schlange an der grenze am brenner oder so hab ich ja auch nie etwas geschrieben.

ein besuch war besonders, weil ich die freunde in einem wochenendhaus in klein-venedig besucht habe, in einem käfer cabrio mit italienischem kennzeichen, in dem ich damals herumfuhr, und die stadt eigentlich nicht verlassen durfte als tagesgast. es gab kuchen, es war ein normaler besuch bei leuten an einem wochenende, es gab einen mann, den ich interessant fand, ich erinnere mich nicht daran, dass die mauer und die ddr thema war, wobei halt, ab wann durfte ich denn mit dem auto in die ddr fahren, war das nicht nach mauerfall? weiß ich nicht mehr, nur, dass ich über die grenze bornholmer strasse eingereist bin, innerstädtisch.

franziska kam jedenfalls irgendwie und irgendwann im sommer ’89 mit der bitte heraus, einen ihrer freunde zu heiraten, der unglücklich war und in den westen wollte, ich hab mich informiert, es gab diese anwälte am kudamm, die mir helfen wollten, ich musste nicht einmal hingehen, anruf genügte, und der apparat fluchthilfe ist angerollt, mit einer gewissen routinierten bürokratie. mir wurden eine reihe von infoblättern zugeschickt für die vorbereitung eines heiratsantrags, zu stellen an die ddr natürlich, nicht nur an den partner, mit empfehlungen, wie viele briefe und besuche nötig waren, um einen anschein von glaubwürdigkeit aufrechtzuerhalten. roger, der mann, war freundlich und eher still, der aufwand war ihm unangenehm, es waren die freunde, die sich sorgen gemacht haben um ihn und ihm helfen wollten. ich glaube, er konnte nicht studieren, was er wollte, aber ich weiß es nicht mehr, ich kannte ihn ja gar nicht. er hat keine perspektive für sich gesehen, kein mögliches glück, es waren die jahre, wo die situation in der ddr noch bleiern und statisch war, obwohl unter der oberfläche alles schon auf ein ende hinzustürzen schien, ich hab das aber nicht bemerkt damals, ich habe es später nachgelesen. die infoblätter tragen einen stempel vom august 1989, damals war der bruch schon im gange, ungarn hat ein paar hundert ddr-bürger ausreisen lassen, aber der weg dahin erforderte noch die bereitschaft, alles hinter sich zu lassen, familie, freundschaften, besitz, für immer. es war noch nicht vorstellbar, einfach auszureisen, im sinn von: legal ausreisen, schon aus angst um die familie, um die dableibenden. rausheiraten war eine alternative dazu, als westlerin hätte ich unterschreiben müssen, dass ich mich auch in der ddr ansiedeln würde, aus liebe, ich so beim lesen: hmm. ich weiß nicht, wie es dann weitergegangen wäre, ein paar monate wurden aber angesetzt, um die behörden zu überzeugen, da hätte ja jeder kommen können. ich habe glaube ich noch ein paar briefe geschrieben und war einmal noch drüben, um roger zu besuchen, aber ich erinnere mich nicht mehr genau dran. vielleicht auch nicht. wir hätten die ehe sofort nach seiner ausreise zum vom staat subventionierten sonderpreis von 1000DM scheiden lassen können, annullieren ging glaub ich nicht, und natürlich hab ich alte romantikerin darüber nachgedacht, ob ich mich eventuell in ihn verlieben könnte, wo er doch seine freundin sowieso nicht hätte mitnehmen können. dann fiel die mauer und ich hab ihn nie wiedergesehen.

ps: wollte die beziehung pci/ddr googeln und bin dabei auf die geschichte von benito corghi gestoßen: der arme mann war lkw-fahrer und sollte eine ladung schweinefleisch aus cottbus nach italien transportieren. ihm fehlte eine erlaubnis an der grenze, die grenzer haben ihm die durchfahrt verweigert, er wollte zu fuss die paar hundert meter vom lkw zur grenze zurücklaufen, um das papier zu besorgen, die beamten haben ihn nicht erkannt, er hat ihre warnrufe nicht verstehen können und wurde daraufhin erschossen, hinterrücks, mit drei schüssen in den rücken. 1976.

edit: auch eine heirat in den westen war eine ausreise und hat familien zerrissen, und wer einmal ausgereist war, durfte meistens nicht einmal für einen besuch zurückkommen. bei der bundeszentrale für politische bildung gibt es einen bericht darüber. noch ’89 haben 50000 menschen eine ausreisegenehmigung bekommen.

16. juli 20

ärgere mich immer noch über den kalten sommer, weil ich die energie für die harten berliner winter im sommer sammeln muss, dazu soll es ein paar wochen lang sicher sein, dass der nächste tag wieder ein sommertag wird, hell und heiß und sonnig, und man muss keine sekunde drüber nachdenken.

ich muss unbedingt noch ein paar wochen in den süden, habe mir vorgenommen, nach abgabe der facharbeit zu reisen, an der ich grad sitze für so ein zertifikat, aber mit der komme ich schlecht voran wg meiner eingebauten nahtlos integrierten arbeitsstörung. helfen tut eine virtuelle bürogemeinschaft mit einer freundin und ein allabendlicher checkin mit einer anderen freundin, trotzdem ist das blöde ding noch nicht vorzeigbar, obwohl es inhaltlich keine herausforderung darstellt. werde es wahrscheinlich wie ein junger mann aus der verwandtschaft am letzten tag fertig schreiben und hoffen, dass die note irrelevant ist. er hat für seine letzte arbeit eine zwei bekommen, aber er ist halt noch schnell im kopf, und es waren nur 5 seiten.

ich könnte ja, wenn die kinder aus dem haus sind, einfach in den süden ziehen, wo es noch sommer gibt, werde mir dann allerdings auch bei vermietung meiner schönen altbauwohnung nur eine viel kleinere wohnung leisten können, ein drittel bis halb so groß, wegen der neuen mietobergrenzen in berlin, die es woanders nicht gibt, auch nicht in italien, wobei halt, in den siebzigern gab es den equo canone, der meinen eltern eine riesige 200m²-wohnung im zentrum von mailand ermöglicht hat, mit dachterasse, für ca. 1000 dm im monat, ca. 1 million lire. andererseits sind die löhne im süden ja auch höher, dann hält es sich vielleicht die waage. bayern! freiburg! da gibt es auch nettere männer.

hier ist ein allgemeiner corona-missmut eingetreten, natürlich nicht bei den jungs, sondern bei mir. einen test habe ich schon absolviert wg einem husten, negativ zum glück. ob das die neue normalität wird, ein test bei jedem symptom? ich bin immer noch vorsichtig, trage masken etc., bei den söhnen bin ich mir in deren entspannten momenten nicht sicher. ich glaube nicht, dass junge leute weiterhin abstand halten, abends im park, zuhause bei freunden, gar nicht mal mit absicht, es wird einfach vergessen. g.-zwilling macht ein praktikum in einer metallfabrik, da trägt keiner maske. ich hoffe, berlin ist über den berg.

mich nervt die losgelöstheit dieses jahres, in dem ich noch so wenig erwirtschaftet habe, mir fehlt der alltag mit kollegen, mir fehlen selbstverständliche abläufe, die ich nicht immer im kampf gegen innere freiheit absolvieren oder gleich komplett in frage stellen muss. die zwillis setzen sich zuwenig ein, machen zuwenig im haushalt (obwohl sie gut erzogen wurden), es kostet und verschluckt mehr energie, als wir zur verfügung haben. naja, es wird wieder besser werden, die fahrt geht ja weiter. wir sind leere hüllen, aller geist verschwimmt im großen see der ausnahmeregelungen, nichts ist mehr sicher, kein termin steht. regelungen segelungen, die takelage hält nicht stand, das boot treibt ab und verschwindet im dunst, wo es bestimmt nachts von piraten überfallen und versenkt wird.

ahoi.

15. juli 20

mal wieder ein datingportal benutzt, mit ein bisschen scham, weil ich immer noch single bin, und weil es prokrastinativ ein schlechtes zeichen ist. lauter nachrichten gefunden, aus den letzten wochen, hoffe ich, und nicht monaten. ein paar beantwortet, einer reagiert, meldet sich dann aber nicht mehr, um das date zu bestätigen. erleichterung. meine einstellung ist zwischen se son rose fioriranno und I prefer not to.

ohne jugend und schönheit ist es schwierig, jemanden zu finden, glaube ich, ich sollte schickere fotos machen lassen, denn darauf kommt es an, weil das bild ja der haken ist, nicht der text, und die männer alle so gestrickt sind im schutz der anonymität, wage ich mal zu behaupten. ich bin vom typ her eher fürs zufällige kennenlernen, wie es früher war, serendipity ist mein königreich, aber in rl gab es in 8 jahren ungelogen nicht einen single, es sind alle vergeben, es großes paradoxon bei all den singlefrauen überall. es hat jedenfalls auch in tollen gesprächen mit männern keine auch nur kleine geste der kontaktaufnahme gegeben, wobei ein satz wie „vielleicht sieht man sich ja mal wieder“ eine fette geste wäre, und mein versuch einer kontaktaufnahme landet dann in awkward silences oder sie holen sich schnell was zu trinken. schräg. alle schlecht erzogen, echt, ist doch wahr! in italien ist das unglaublich anders, da habe ich auch in meinem alter noch dauernd irgendwelche spielerischen flirts und dates, auch wenn ich nur 3 wochen im jahr da bin. (oder deshalb, raunt der schelm?)

in den datingportalen wollen sie sex, antworten mit fertigtexten, verstummen, wenn ich mehr als sie zurückschreibe, ich vermute, sie wollen sex wie teenager, die noch nie welchen hatten, als wäre der sex das eine, was ihnen dauernd zusteht im leben und besonders im onlinedating, als sei der sex das eine, womit all der verlust und die einsamkeit geheilt werden kann, ohne zu privat zu werden, ohne in den spiegel sehen zu müssen, und sie hoffen, es sei selbstverständlich, dass sich eine frau um ihren schwanz kümmert, als sei das der hauptertrag der aufklärung, etwas, das sie einfordern können, und vielleicht sind die jungen, schmalen körper der noch nicht gealterten frauen da ein sicherer hafen auch für ihre selbstwahrnehmung? andrerseits glaube ich den daten, es ist halt einfach so, auf eine auch wieder angenehm unkomplizierte weise. ich schaue mir natürlich auch gern schöne körper an und finde sie attraktiv, aber ich will dann keine beziehung mit ihnen, nicht einmal sex. teenager alles.

hab im alten blog nach einer alten zeit gesucht, weil ich etwas vergessen hatte, den satz gefunden: „man muss ja einen kleinen teil der seele unbedeckt lassen, sonst merkt sie es nicht, wenn sich etwas bewegt“, ihn albern gefunden, dann gemerkt: diese art poetisches denken hilft tatsächlich immer noch.

habt ihr alternativen zu datingportalen? mein dilemma: mir fehlt eigentlich grad gar nichts, nichtmal sex, aber ich fürchte, dass ich bald zu alt bin für partnerschaften mit männern, und die 70jährigen sind mir auch zu alt. vielleicht gibt es keinen unterschied zwischen diesem zu alt und dem zu alt der typen, die lieber eine 25jährige hätten? hmm.

ach, alles zuviel aufwand. und wenn es jetzt nicht fehlt, warum soll es dann später fehlen?

16. mai 2020

heute früh nochmal kurz mein schrottiges rad gecheckt, weil ein ausflug mit zwei freundinnen anstand. nach zwei stunden ist es zu spät für den großeinkauf, dafür fährt das rad wieder, klappert nur noch vorne, mit einem einzelnen fast angenehmen dengelton, wenn das lose schutzblech gegen die gabel schlägt. ich versuch den großeinkauf in auszügen („nur notwendiges“) zu delegieren und fahre los.

die radtour war anders als erwartet, wider erwarten konnte ich nur den ersten und zweiten gang meiner dreigangnabe benutzen, weil es die ganze zeit bergauf ging. prenzlauer berg eben! die freundinnen haben mich in den botanischen garten pankow gebracht, wo wir nach ihrem acker schauen wollten. eine initiative hat dort kreisbeete angelegt, ca. 20m im durchmesser, in der mitte steht jeweils ein wasserhahn mit automatik, der in abständen kreisförmig wasser sprüht. die kreise sind in tortenstücke zerteilt, die man pachten kann, sie werden nach einem system bepflanzt, teils vom anbieter, teils von den pächtern, es gibt blumen, gemüse, kräuter hintereinander. es sind vielleicht zwei handvoll leute auf den beeten, jäten, pflanzen, mulchen oder ernten, zb rauke und spinat. ich bekomme ein radieschen direkt aus dem boden, knackig und scharf. auf der wiese daneben ruhen vier weitere kreise für ein oder zwei jahre, bis sich der boden erholt hat. sehr cool. ich hatte so etwas schrebergartenmäßiges erwartet, stattdessen ist es ein reines nutzfeld, die pächter kommen zum arbeiten, liegestühle sehe ich keine. aber für beschauliche samstagnachmittage kann man ja den umliegenden park verwenden. schön für familien, weil die kinder so karotten, pastinaken oder kartoffeln schon am grünzeug erkennen lernen und einen einblick in dinge wie pflanzfolgen bekommen. das gemüse genügt wohl für eine familie über den sommer, je nach appetit und pflanzglück, es klappt ja nicht immer alles. eine gewisse disziplin müssen die nutzer mitbringen, auch beim ernten, die freundinnen erzählen von einer zucchini, die einmal den verkehr aufgehalten hat, so monstergroß ist sie geworden. faszinierend.

danach noch kuchen und kaffee im ehemaligen gewächshaus, den wir unter freiem himmel an tischen essen, bisschen fröstelig ist es. auf der heimfahrt geht es rätselhafter weise ebenfalls nur bergauf, ich spüre lauter vergessene nervenenden im allerwertesten. die freundin erzählt von ihrem geplanten sommerurlaub, mit dem rad von hier nach wien und weiter nach athen, ich denke, puh, aber du hast mehr gänge, ich hab nur drei, davon praktisch nur zwei zu verfügung! freue mich sehr, als wir wieder zuhause sind und ich mich vom sattel entfernen kann. den d.-zwilling gefragt, ob er einkaufen war, er sagt nein, der g.-zwilling hätte gehen wollen, der g.-zwilling sagt nein, der d.-zwilling habe gehen wollen. der d.-zwilling hat immerhin eier und äpfel vom markt geholt, allerdings übereinander im rucksack, was nicht gutgegangen ist. muss also noch mal scheuchen. abends couscous und eine weinschorle, ein zwilling geht aus, der andere nicht. gelernt habe ich den unterschied zwischen grade aus der erde kommendem möhrengrün und unkraut, und dass es unter umständen erstmal eine weile nur bergauf gehen wird, wenn ich wie geplant wieder mehr sport machen werde.

9. mai 20

so ein schöner morgen, dachte ich gestern, stand früh auf und macht mich auf den weg in den tag. nach hunderunde klein und frühstück mit dem auto zum großeinkauf, der grade gefühlt alle drei tag nötig ist, weil die jungs das kochen entdeckt haben. dort wie immer mit einer von drei karten zahlen gewollt, aber sie war nicht da, weil sie noch im portemonnaie vom g.-zwilling steckte, den ich letzte woche mit emma zum tierarzt geschickt habe. zweite karte, kassiererin, kartenlesegerät und ich bemerken: die ist abgelaufen. 04/20, wie die zeit vergeht! dritte karte ist die visa, niemand kennt die pin seiner visakarte, weil man die nirgendwo braucht, nur eben an supermarktkassen. den vollen wagen an die kasse gestellt, zum auto, nach hause. g.-zwilling war nicht da, hatte aber sein portemonnaie liegengelassen, ich also mit ec-karte zurück zu meinem einkaufswagen, gezahlt, das eis in die tüte für gefrierzeugs gepackt, nach hause, keinen schlüssel in der tasche gehabt. bei nachbarin geklingelt und ihr das eis in den freezer gelegt, gleich ein paar lebensupdates gemacht, wir haben uns alle solang nicht mehr gesehen. sie hat die nummer vom d.-zwilling (mein handy liegt auf dem schreibtisch vom g., wo ich seine geldbörse durchsucht habe), hat ihn herbestellt, ich hab ihn alles hochtragen lassen und wollte mich auf den weg zum optiker machen, mein 0€ gestell ersetzen lassen, mit termin. mein rad hatte ich am tag zuvor an den g. verliehen gehabt, am fahrrad fällt mir auf, dass mein radschlüssel nicht am schlüsselbund ist, weil er noch am schlüsselbund vom g.-zwilling hängt, was anders besprochen war. ich also schnell zu fuss los, zu spät, brille repariert, halbe stunde zu spät für geplante große hunderunde mit freundin, sie kann nicht später, wir haben uns lang nicht gesehen und setzen uns also wie zwei studies mit unseren laptops auf dem schoß auf eine parkbank, wo wir zweieinhalb stunden in ruhe etwas tun können, eine rechts außen, eine links außen. um uns herum die jugend, also leute unter 40, mit bocciakugeln, drinks in der hand, zu nah beieinander stehend. dann wird die bank zu hart.

keinen haushalt gemacht, jetzt keine lust mehr. abends koche ich ein kochbuchessen (ich habe für volle tage ein sehr dickes buch mit italienischen regionalrezepten, die sind alle aus dem alltag, teilweise mit rätselhaften zutaten in dialekt, immer nur 3 bis 4 zugaben, eine davon salz, „fertig garen“, das wars), schmeckt allen, salsiccia mit knofi, peperoncino und broccoli, dazu kartoffeln.

müde.

abends nochmal stimmung, weil der g.-zwilling sich von einer freundin ein ohrloch stechen lassen will, mit einer stecknadel. es geht wohl in der stadt erst wieder übermorgen, muss also heute sein, und „ich bin 19, mama“. er besitzt jetzt zwei ohrringe, braucht also ein zweites loch, habe ihm zum geburtstag die beiden brillis geschenkt, die ich vor 23 jahren von seinem vater geschenkt bekommen habe, wunderbar, hab es immer bisschen bedauert, dass keins der kinder mir handtaschen, kleider und schmuck klauen will oder abnehmen wird. nach den ersten schreien holt erst er, dann die freundin sich einen grappa, bevor sie nach einem hinweis aus dem internet mit besserem werkzeug (alter pen von mir mit frischen nadeln) einen neuen versuch machen. nach einigen quiekern und schreien gelingt das unterfangen, der stecker sitzt, die beiden gehen noch auf eine runde in die stadt, was wohl irgendwie wieder geht.

bewundere sie fast mehr als ihn.

es war ein g.-zwilling-tag, merke ich, das ist manchmal so, das liegt teilweise an all der ungebundenen energie wegen corona, denke ich, teilweise … teilweise aber auch nicht.

2. mai 20

gut war in der letzten woche der moment, als auf dem bildschirm des g.-zwillings das windowsfenster aufleuchtete. der rechner war zwei jahre kaputt, bzw. gar nicht kaputt, nur die festplatte war hinüber. kind hat sich nicht gekümmert, also hab ichs übernommen, neue ssd gekauft, die festplatte vom identischen rechner des d.-zwillings geklont, läuft wieder, ich liebe ja einfache lösungen. sie verhandeln, ob der g. die ganzen spiele vom d. löschen muss oder nicht. war ihr konfi-geschenk, 5 jahre alt, also nicht mehr taufrisch.

schönen langen spaziergang gemacht, mit hund und eis und freund, die gesellschaft von freunden fehlt wirklich. bin mit einer freundin oft zum aperitiv ins misirlou gegangen, all’italiana, ohne aufwand für ne leicht verlängerte dreiviertelstunde sitzen, leute gucken.

die leise und nicht unangenehme aufgeregtheit wg. der berliner feierlichkeiten zum ersten mai ist diesmal vollkommen ausgefallen. zum ersten mal in, ähm, 33 jahren berlin. es ist mir erst heute aufgefallen.

die trauer um m. begleitet mich weiter, im hintergrund, wenn ich zur ruhe komme oder anhalte und hinschaue. mein bild von ihm, die erinnerung an stimme, stimmung, persönlichkeit von m. ist noch völlig unversehrt. ich kann mir nicht vorstellen, wie es für die familie ist, dann glaube ich wieder, es mir doch vorstellen zu können, habe als referenz aber nur die angst vorm tod eines liebsten zur verfügung, dahinter versagt die empathie. die verunsicherung bleibt, so schnell kann es gehen, ein ruf zur ordnung ist es.

für die beerdigung hat die familie ein lied verschickt, dass alle freunde und verwandten spielen können, wenn der sarg ins grab gesenkt wird. haben wir gemacht, auf dem balkon stehend, es war sehr intensiv, ich konnte mir den großen kreis vorstellen, er ging über kontinente. möge die erde dir leicht sein, wollte ich ihm über seine angehörigen noch schreiben, habs vergessen, jetzt wird der satz zu einem winzigen haufen pixel in der unendlichkeit des universums, und ich bin nicht unterzuckert. es sind alles nur worte, mehr haben wir grad nicht.

großeinkauf heute mit langer schlange, einer raus, einer rein, die einkaufswägen gingen von hand zu hand. hatte handschuhe an. versuche, mehr mit den augen zu lachen, vergesse es manchmal und reagiere mimisch gar nicht, fühlt sich unhöflich an. bei rewe alle mit maske, im laden schieben sich die leute aber manchmal recht eng aneinander vorbei. nur wenige mit handschuhen. es gibt wieder genug ware.

1. april 20

falle sehr in einen ruhigen teil meines wesens zurück. ich bin mit wahrnehmung häufig schon ganz glücklich, mich stresst ja sonst eher der aufwand, den ich mit der welt treiben muss, bis ich mich wieder der kontemplation hingeben kann.

in den letzten wochen beim buchsortieren bin ich vom erwerb neuer bücher grundsätzlich abgekommen, ich hab so eine sehnsucht nach einrichtung und entstapelung, andererseits bin ich etwas bibliophil und liebe neue bücher, als versprechen wie als objekt, gerade jetzt, wo ich zeit fürs lesen habe. fürs versprechen gibt es den kindle oder secondhand oder bibliotheken, nur, was mich umhaut, darf bleiben, da werden vermutlich die meisten neuen bücher wieder gehen müssen, ich habe mich beim sortieren etwas radikalisiert, das trennen fällt mir leicht inzwischen.

die lust auf den gegenstand buch muss ich irgendwie anders bedienen. habs schon mit nur einem buch pro zeitraum x versucht, funktioniert nicht, da geht der lustgewinn verloren über die strecke, die extra großen und dicken bücher haben auch nicht geholfen (ach, da hab ich ein posting im entwürfe-ordner vergessen, über ein comic- und ein pop-up-buch. hol ich nach), im inneren karteisystem zählen sie auch nur als ein buch. in meiner not habe ich mir einfach eine komplett neue zweite bibliothek in die erste gebaut, in eine ecke von einem bücherregal. ich habe dafür winzig kleine bücher genommen, man kann sie zwar schlecht oder gar nicht lesen, aber ich konnte jede menge davon kaufen, und es passen noch mehr hinein, wenn es mich wieder überkommt. a library in a library, mit regalen, ein bisschen einrichtung. und mit beleuchtung. ein befriedigender und genügend alberner kompromiss. bisschen riskant niedlich, aber was solls, der ruf ist eh ruiniert. (massimo listri hat das bild geschossen, dass ich für die perspektive benutzt habe)

heute nur einen kleinen aprilscherz gemacht, von keinen anderen gehört, lange hunderunde gedreht, emma an der leine, kontakt mit familie und ein paar freunden gehabt, von den jungs wenig gesehen. sie haben lange zusammen auf dem balkon vom d.-zwilling gesessen und sich unterhalten. nicht gekocht, nichts gebacken, kaum haushalt, dauernd den wochentag vergessen.

23. märz

es ist so still.

diese texte über covid-19 sind wahrscheinlich das erste mal in 20 jahren interessant, oder bei der nächsten pandemie. ich habe schon einmal an einem jahrhundertereignis teilgenommen, aber anders als beim mauerfall springt der impuls zur dokumentation jeden an, der irgendein soziales medium nutzt. mir hilft das über die unruhe, es geht allen so, jeder spricht darüber. meine erinnerung an den mauerfall hat etwas ganz privates, meine eigenen bilder sind grundlegend anders als die aller anderen, sie sind nicht symbolisch oder repräsentativ, sie sind zufällig, erlebt und nicht gesucht. ob sich die bedeutung so einer geschichte für die biographie verändert, wenn alle ähnliche bilder damit verbinden? sind die bilder stärker als die erfahrungen, geht etwas verloren oder kommt was dazu? es wird eine unwucht in richtung bilder vs erlebnisse geben, wenn die blogs und reportagen nicht gelesen werden, ein grund mehr, auch banales aufzuschreiben. vielleicht reichen ja auch memes.

bei all der digitalen gemeinschaft vergesse ich zur zeit fast, mein alleinsein und die ruhe zu genießen, dabei bin ich sehr gern allein. die jungs halten ihre zimmertüren geschlossen, wir sehen uns beim essen, und wenn es etwas zu sagen gibt. also netz aus, buch und musik an.

heute, am ersten tag der anders genannten ausgangsperre, ist die ruhe viel deutlicher. man hört gar nichts mehr. auf der strasse waren am wochenende noch relativ viele passanten unterwegs, nur sehr wenige mit maske, die meisten hielten weniger als anderthalb meter abstand, beim bäcker gehen die leute dicht an mir vorbei durch die tür, ohne hochzuschauen, auch auf der strasse lässt sich fast niemand zu einem ausweichen hinreißen, weiche ich also selber aus. ich glaube, es geschieht selten aus einer entscheidung heraus, häufiger aus so einer art trägheit, einem beharren im normalen, es gibt noch keinen schutzreflex.

ich bin ein bisschen erkältet, habe zue ohren und einen kleinen frosch im hals, war bis vor einer woche in einem umfeld mit der höchsten erkältungsdichte überhaupt beschäftigt, einem kindergarten. der eine zwilling mit allergien und asthma hustet gelegentlich, einerseits ist es die jahreszeit dafür, andererseits hat ein kumpel gestern von einem coronafall in der familie berichtet, die beiden haben sich vor einer woche in einer größeren gruppe unter freiem himmel mit ellbogenstups begrüßt, trotzdem gab es natürlich eine gewisse nähe. es ist der zweite fall in der familie, der große hatte ja auch schon einen eventuellen kontakt, immerhin wird die quarantäne in dieser zweiten woche leichtfallen, weil alle mitmachen. in der ersten woche hatten wir keine, weil wir nichts von der infektion wussten, haben aber abstand gehalten, hände gewaschen und sind nicht ausgegangen, auch die söhne nicht. ohne die jetzt verordnete strikte isolation ist das virus unter jungen menschen nicht aufzuhalten.

wäre aufregend, wenn auch der gemeine schnupfen verschwinden würde.

bis auf bisschen gemüse für die hühnersuppe, und frischem obst, muss ich diese woche nix einkaufen, habe vor, dafür eine maske aufzusetzen. bin mir relativ sicher, dass wir bald alle eine tragen werden, wir haben zuhause noch irgendwo ein paar einzelne ffp3-dinger aus einer alten bestellung, ich könnte aber noch welche nähen, baumwolle und küchenhandtücher sind ein guter ersatz, wie es scheint. eine firma näht masken in diese schlauchschals, die über mund und nase hochgezogen werden, alle ausverkauft, das kann man sicher auch selber machen, ähnliche schals gibt es für wenige euros online, sie sind ein bisschen diskreter als die masken, zumindest, solang es noch nicht wärmer wird.

ich warte auf online bestelltes mehl, bei den letzten drei supermarktgängen waren die regale leer, es gab auch online lieferschwierigkeiten, aber heute kam die versandbestätigung. endlich backen! ich verwende das gute caputo-mehl, die mutterhefe überlebt damit schon ein jahr trotz gelegentlicher vernachlässigung.

20. märz

gestern vormittag bei obi mit g. nur einzeln reingelassen worden, immer nur ein familienmitglied. sie haben zwischen kasse und kunden trennwände gebaut, große klare plastikscheiben auf einem gerüst aus holzlatten, sehr baumarkt. die kassiererinnen tragen handschuhe, halten abstand, da trägt jemand fürsorge und kümmert sich im rahmen des möglichen um seine mitarbeiterinnen. beim rausgehen standen bestimmt 20 leute in der schlange. später bei DM bat man auf stelltafeln um rücksicht und abstand, drinnen stand ein wachschutzmensch, aber es war nicht so voll. keine mülltüten, kein klopapier.

nachmittags viel stress mit g.’s flug. er hätte nach kapstadt fliegen sollen, um dort bei einer freundin zu wohnen, die ein praktikum macht, und sich dann das land ein paar wochen anzuschauen. viel zeit und selbstverdientes geld sind in die vorbereitung gegangen, es war eine für ihn sehr wichtige reise, ein freischwimmen auf einem anderen kontinent und in einem anderen meer, weit weg von zuhause. er wollte hin, komme was wolle, hat am samstag erfahren, dass ab dieser woche keine deutschen staatsbürger mehr ins land gelassen werden, wollte den flug erst vorverlegen, um noch hinzukommen, muttern im hintergrund zwar unterstützend, aber auf die trägheit des systems vertrauend. am sonntag schien dann auch sein transit mit umstieg über doha nicht mehr möglich, 14 tage sollen deutsche reisende in quarantäne. trotz der so eindeutigen lage war es in 5 tagen nicht möglich, den flug zu stornieren oder umzubuchen, nur am tag vorher, für einen 0-euro gutschein. da war auf der webseite von qatar der weiterflug von doha nach kapstadt schon gecancelt. qatar verwies beim storno/umbuchungsversuch auf den buchungsservice, opodos webseite war überlastet, ans telefon ging stundenlang niemand. stundenlang. wir haben mails geschickt, aber der flug nach doha ist gestern gestartet, ohne g., der rückflug wurde gestern dann auch noch gecancelt. zum glück ist er nicht mitgeflogen, ob sie ihn mitgenommen hätten ohne aussicht auf ein weiterkommen, meinen 18jährigen? am abend kam eine mail von opodo mit der bitte, sich in doha an das deutsche reisebüro zu wenden.

g. ist wohl unfreiwillig zum no show geworden, keine ahnung, ob er von seinen 700€ etwas wiedersehen wird. die extra bei der allianz abgeschlossene reiserücktrittsversicherung verweigert corona-ersatz, alle beteiligten firmen (qatar, opodo, allianz) scheinen ausschließlich aufs eigene wohl bedacht und unfähig, sich der neuen lage anzupassen. lektion gelernt.

in den paar schönen tagen seit dem wochenende hat sich mein bücherstapel ordentlich reduziert, auch der karton mit den italienischen büchern ist leer geworden. jetzt kippt das wetter leider, g.-zwilling hat seinen reisefrust ins aufräumen gesteckt, sein zimmer zweimal komplett umgeräumt und dabei ebenfalls stapelweise büchern aussortiert, die jetzt auch alle auf dem flur stehen und arg nach etwas unfertigem aussehen. heute hat sich d.-zwilling anstecken lassen. die wohnung wird super aussehen nach dem rückzug ins private. die schulbücher könnte ich vielleicht weiterverkaufen, ein paar neue auch, aber den rest können wir, falls tatsächlich eine ausgangsperre kommt, im prinzip wieder einsortieren.

18.

leerer tag. frühmorgens die freude, dass der große negativ getestet wurde, er war in kontakt mit jemandem, der in quarantäne war, und hatte husten. in trier ist es wohl einfacher, sich testen zu lassen, er hat telefonisch bei der hausärztin um eine überweisung gebeten, die wurde an die drive-in-teststelle gefaxt, er ist hin, das fax war nicht angekommen, ist er wieder zurück zur ärztin und hat durch eine freundin die überweisung abgeholt. in der garage hat dann nach kurzer wartezeit jemand in schutzkleidung den abstrich gemacht, „aber die autoschlange war lang“, heute früh kurz nach sieben hat die praxis telefonisch entwarnung gegeben. die familie informiert, balkon gemacht, aufgeräumt, hund ausgeführt, keinen zugang gefunden zu was auch immer.

viele nachrichten geschrieben und gelesen, viel telefoniert, lauter alte freunde gehört, das war sehr schön. mit den zwillis diskutiert, grade zusammen gegessen. mein zeitgefühl ist noch nicht justiert, sonst ist sowas wie wochenende oder mittwoch mit abläufen gefüllt, die bis in die tieferen gefühlsschichten gehen, dort nerven oder freuen, erkennbar und planbar sind. jetzt ist es ein bisschen wie schiffbrüchig auf einer insel, oder ein traum vom spiegeluniversum, alles still mit winzigen leblosen bösewichtern. heut waren zum ersten mal alle läden zu, aber ich habe nichts mitbekommen. will eigentlich noch einen blumentopf kaufen. die strassen waren bei den hunderunden relativ voll, vor der apotheke standen die leute in anderthalb meter-abständen in der schlange, beim vietnamesen war es aber eng wie immer.

kirill petrenko beim silvesterkonzert

kirill petrenko hat sein orchester gefunden. ein aufregender abend, mit broadway-musik, die ich zum ersten mal richtig gehört habe, es hat sich angefühlt wie: zum ersten mal überhaupt gehört. mit petrenko klingen gershwin und bernstein komplex und schillernd, grad die bläser und das schlagzeug hatten eine selbstverständliche feinheit und genauigkeit, wie ein puzzlestück, das zum ganzen dazugehört und trotzdem eine eigene, unterscheidbare schönheit hat. ich hab sie wahrgenommen, aber das gilt fürs ganze stück, keine ahnung, wie petrenko das bewerkstelligt, die musik wie besonders scharf gezeichnet. arbeit an den tempi und einsätzen? wie eine dieser bildserien von fraktalen, wo der fokus vom ganzen immer tiefer ins detail saust, und dabei in seiner genauigkeit nicht nachlässt. es ist alles so fein und klar herauspräpariert. das konzert war dabei fröhlich und sehr lebendig, petrenko schwingt die ganze zeit, lächelt, tanzt seine interpretation beim dirigieren vor, als würde er nur zuhören, nicht selber dirigieren. er wirkte fast selbstvergessen. die arbeit hat vorher stattgefunden, er soll als arbeitstier intensiv proben vor den aufführungen, beim konzert sieht es nicht mehr wie arbeit aus, eher wie eine feier der musik. sehr schöner abend. 3 zugaben, x vorhänge, er bedankt sich jedesmal bei den solisten und der sängerin, diana damrau, die als solistin mit den gesamten philarmonikern im hintergrund frei und souverän gesungen hat. es waren wirklich alle auf der bühne, 3 saxophone sind noch dazugekommen, eine junge paukistin mit riesiger trommel, ein vibraphon, pauken, eine harfe, es war alles dabei.

auf die sopranistin hab ich bisschen zuwenig geachtet, saß mit meiner mutter im bereich E, seitwärts vom orchester, mit blick auf den dirigenten, die sängerin hat mehr nach vorne zum publikum gesungen.

ich wusste nicht, was anziehen, habe keine elegante kleidung mehr. der große meinte zu meiner auswahl: irgendwie leger, aber man solle ja der bürgerlichen übereinkunft nicht immer folgen, da habe ich widersprochen, ich ziehe mich auch zu ehren der musiker vorher um. die bürgerliche übereinkunft empfinde ich inzwischen als eine recht tröstliche angelegenheit.

neben mir saß eine ältere dame in einem bodenlangem, mit gold und silber bestickten kimono, sie saß die ganze zeit aufrecht vorne an der sitzkante, wegen der großen schleife im rücken. ihre familie ebenfalls elegant, aber nicht so klassisch. es war ein internationales publikum, viele sprachen in der pause gehört, habe ein paar kimonos gesehen. eine japanische familie ist nach dem konzert, als die musiker gingen, nach vorne gekommen, um dem sohn am fagott zu gratulieren, mit daumen hoch und beifall.

lichter, gedenkfeier

schon wieder in der kirche gewesen, diesmal eingeladen unter schweigepflicht. die kirche sollte voll werden, was einem abend um 18 uhr unter der woche nicht einfach ist, es waren aber wesentlich mehr menschen da als neulich am sonntag, weil die idee ganz schön war, nacht der lichter, zum gedenken an den 9.10.1989, als die ostler in der gethsemanekirche zuflucht gefunden haben vor der draußen prügelnden stasi. die frau neben mir ist dabeigewesen und erzählt, wie sie über den zaun aufs kirchengrundstück geklettert ist, und es ist ein zaun mit sehr spitzen stäben, der ist dem d.-zwilling und mir aufgefallen, als wir zum nebeneingang gelaufen sind, weil der haupteingang blockiert war, „adrenalin war das“ sagt sie, und wie sie nicht wusste, was da grade passierte alles. eine frau im rock mit leopardenmuster und passendem tuch, blodes haar, roter lippenstift, verteilt programme. es ist auf den letzten drücker noch fast voll geworden.

die pfarrerin jasmin el-manhy begrüßt uns, dann liest eine schauspielerin, deren namen ich vergessen habe, aus einem buch über den herbst ’89 in der gethsemanekirche vor. „wachet und betet“ stand damals draußen an der kirche, eine nicht unmittelbar politische, aber doch klar verständliche einladung zur aktivität, zur aufmerksamkeit, zum widerstand, wenn auch im gebet. die kirche war an dem abend voller menschen, dicht gedrängt sitzen und stehen sie im raum, ein foto ist auf einem großen schicken bildschirm zu sehen. el-manhy liest einen psalm, der mir gut gewählt erscheint,

weil in der der ersten reihe angela merkel sitzt (drei reihen vor uns, so nah komm ich der macht nie wieder. sie trägt bordeaux). nach einem lied lesen jugendliche aus tagebüchern vor und verbinden den damaligen widerstand, der tatsächlich zu einer revolution geführt hat, mit dem heutigen, der mindestens zu einer wende führen muss. einer der jungen leuten sagt dabei ein paar zeilen, die der bischof, der natürlich auch da ist, in seiner kurzen rede („ansprache“) wieder aufnimmt, sie mussten protestieren, weil sie es für richtig hielten, diese konzentration auf einen zentralen menschlichen aspekt bei der wende, die gemeinsamkeit, dass es allen zuviel wurde, dieses geheimnisvolle kippen der verzweiflung und unzufriedenheit in die gewissheit, jetzt etwas tun zu müssen. er verbindet es immer wieder mit der heutigen lage, das wort selbstwirksamkeit fällt ein paar mal, meine ich zu erinnern. man spürt seine große betroffenheit über das attentat in Halle, „am jom kippur“, er erwähnt es mehrfach.

immer wieder sehr höfliche ermahnungen, auch in gebetsform, doch bitte irgendwas zum erhalt der schöpfung zu tun, sicher auch an die kanzlerin, aber eher indirekt. es dauerte knapp über eine stunde, am ende zünden alle eine kerze an und singen dabei, in einem sehr leichten und eigentlich in seiner vielstimmigkeit gelungenem kanon „dona nobis pacem“, während die kanzlerin mit mann und herrn platzek und herrn de maiziere und ein paar agenten die kirche wieder verlässt. ich denke, sie wollte aus eigenem antrieb herkommen, sie war ja schließlich dabei, im oktober 1989, in der gethsemanekirche. schade, dass sie nichts davon erzählt hat, notfalls impromptu.

keine öffentliche ankündigung und also auch keine öffentlichkeit. kameras waren aber dabei, mal schauen, vielleicht kam es irgendwo. eigentlich ganz gelungener abend, findet die gemeinde, ich mochte auch das nüchterne, nicht hochkandidelte. paar lieder, paar gebete, paar texte, kein brimborium. sehr protestantisch.

veränderung

sie haben einen großen modernen kinosaal in der anlage, einen 12m-pool, eine offene bibliothek mit tischen, lampen und einem relativ aktuellen katalog. die wohnungen („appartments“ sagen sie dort, das große ganze immer mitintendiert) sind zwischen anderthalb und drei zimmern groß, der speisesaal ist schön eingerichtet, die richtigen lampen, sehr freundliches personal, geradezu fröhliches personal. die älteste bewohnerin ist 106, sagt uns die frau, die meiner mutter alles zeigt, die jüngste mitte sechzig, der schnitt liegt beim alter meiner mutter, bei 85 jahren, das ist nicht ohne, nicht ohne, wo ich selber doch nur einen menschen in dem alter kenne. wir bleiben zum mittagessen. die bewohner auffallend elegant, mit gold und silber geschmückt, feine wolle, die männer in sakko und hemd, einer im lodenjanker, weißes haar, niemand färbt es sich noch ab alter x. meine mutter ist noch eher blond, vielleicht ist das ein einzugsritual, der abschied von der vergangenheit? ist nicht mehr und wird nicht mehr werden. paar rollatoren, „aber die sind dann auch schon 20 jahre hier, sind hier alt geworden“, paar rollstühle. mich würde glaube ich die ganze eleganz stören, das gediegene, ich empfinde das als zur schau gestellten wohlstand, ein auffälliges gleiche-unter-gleichen, vielleicht nur, weil ich nicht dazugehöre mit meinem einen kaschmir im regal, diese menschen haben halt einfach kein h&m im schrank, die können sich das ja nicht aussuchen, nicht mehr aussuchen, ihr leben hat die feine kleidung hinter ihnen angehäuft. sie kennen es nicht anders. die frauen sehen interessant aus, ihre verschiedenheit fällt mir auf, sehen sich doch alte leute oft ähnlicher als jüngere, weil ihr alter das erste wahrgenommene ist, von meinen zarten 50plus jahren aus betrachtet. ich bilde mir ein, ihnen ihre guten leben ansehen zu können, weiß aber nix natürlich. vielleicht waren sie einfach besonders schön, und nicht besonders interessant, im alter fällt das ein bisschen ineinander. sie bringen bestimmt einen großen teil ihres lebens mit, wenn sie in so einen alterssitz umziehen, und müssen viel zurücklassen, wie das eben so ist.

ein bisschen kreuzfahrt war das heute, wo die leute aus ihren kleinen kabinen immer in abendgarderobe erscheinen.

meine mutter passt da hinein und wieder nicht. „diese ganzen alten tanten“, sagt sie, es fällt ihr aber dann noch auf, dass sie selber dazugehört. männer gibt es deutlich weniger. ihre berufe kann ich frauen und männern nicht ansehen, kann ich aber bei gleichaltrigen auch nicht gut. ein mann sieht noch ein bisschen nach baumogul aus, auch wenn der körper hinter dem dominanten kinn schon zu verschwinden beginnt, bei damen würde ich nie nach baumogulinösem suchen, da sehe ich eher akademische berufe. die paare unterhalten sich miteinander, nicht alle, einige reden nur einen satz zum menue. die menschen sind ja zuhause dort, ich weiß nicht, ob der repräsentative anteil der eigenen existenz in den hintergrund tritt, wenn man jeden tag im restaurant isst. finde ich interessant, welchen preis so eine normalität hat, sicher hält es die leute auch beieinander, wie jedes ritual.

eine bekannte, die dort schon lebt seit ein paar jahren, rät meiner mutter zum hinwarten, vermisst ihre wohnung und vielleicht auch die realität, oder sie ist ihre einsamkeit dort nicht losgeworden, und dann ist das endgültige noch dazugekommen. es hängt vielleicht davon ab, wie wichtig das zuhause für die identität ist, wie sehr man die sehr pragmatischen grundrisse und die neubauödnis wahrnimmt im lebensalltag. wie es einem geht vorm umzug. aber schöne holzböden auf den balkonen.

ich will dauernd „im alter“ schreiben: so ist das eben im alter, weil darauf alles hinausläuft, so einen lakonismus, die akzeptanz des todes. die zimmer werden frei, wenn jemand gestorben ist, das wissen ja alle, da zieht keiner mehr aus, da sind sich alle bewohner gleich, vielleicht werden sie deshalb alle mit namen angesprochen, bei jeder begegnung, weil angesichts des großen gleichmachers der namen ans leben als einzelner und einziger erinnert, das die menschen ja hier auch noch leben, zu ende leben, päng, da ist er wieder, der tod. dieser aspekt macht mir auch noch schwierigkeiten, glaube ich, dass die mutter als ewige präsenz an einen ort umziehen will, an dem nix mehr ewig währt. ihr sicher auch, bei aller norddeutschen resolution. das verfliegt aber auch wieder beim dort herumlaufen, sobald man sich daran gewöhnt hat, im alltag ist eh mehr gegenwart, das ende fern wie immer. bei abwesenheit von schmerz und not, natürlich. oder nicht? bin ich gespannt drauf.

„sie denken darüber nach, sich zu verändern?“ fragte die mitarbeiterin und rät zur baldigen entscheidung. wenn man schon pflegestufen hat, wird man wohl nicht mehr genommen, lieber sind ihnen aktive senioren, die die arbeit des kulturrates zu würdigen wissen, ende des monats kommt walter momper und erzählt von der wende, ein film mit burt lancaster wird gezeigt, es gibt lesungen und konzerte. eine wasserreise und eine landreise pro jahr, „sehr begehrt“.