13. april 20

zum ersten mal seit der sperre allein zu hause, sofort total k.o. und müde. keine lust auf hunderunde, der hund schläft zu meinen füßen. sie verliert grad ihr winterfell und ihr körper findet dabei irgendwie kein ende, das ganze dichte und leicht filzige unterfell ist schon weg und sie verliert immer noch büschelweise fell. sie sieht ganz zart aus.

die jungs heut von mittags bis abends beim vater, ich hab sie hingebracht, damit sie der bvg fernbleiben können, genieße die leere der wohnung sehr. bin in den letzten wochen auf mich zurückgefallen, ich habe mich sowenig verändert im kern, merke ich erst, wenn das außengerüst abfällt mit verhalten, gewohnheiten, abläufen, beziehungen und all den anderen bedingungen des alltags, die genauso formen wie halten, aktiv wie passiv. bald bin ich wieder bei lyrik. bisschen schade, dass ich kein home-office machen kann, würde gern herausfinden, ob das noch geht oder nicht.

spass am rumwurschteln mit dem rechner vom g.-zwilling, der total hinüber ist, jetzt warte ich auf eine neue ssd-festplatte. habe mein aaps aktualisiert und werde einen weiteren rettungsversuch beim edison versuchen, dessen antenne nicht mehr geht, man kann ihn wohl versuchsweise neu flashen, mit einem pc statt mac, das hat ja bei der smartwatch auch wunder bewirkt. es beruhigt mich, es ist mit den großartigen und idiotensicheren anleitungen im netz genau wie malen nach zahlen, das ist ja auch sehr meditativ.

meine rolle in der familie hat etwas flirrend-unklares bekommen, will die jungs zu sinnvollem anhalten, lesen, bewerben, lernen, loslaufen, was sie ja seit ihren abis selbstverantwortlich tun sollen, sie waren da im selben fluss wie fast alle ihre freunde, reisen, jobs, vielleicht ein praktikum, dann studium oder lehre. jetzt fehlt ihnen die erfahrung der fremdheit, die grand tour, die sie so gebraucht haben, um von zu hause und von der kindheit wegzukommen. die meisten spielen, sagen die jungs, übers netz verbunden, jeden tag ein paar stunden. der eine kumpel, erstsemester irgendwo, den alle insgeheim ein bisschen bewundern, ist allein zu hause, eltern im ferienhaus, ernährt sich von nudeln mit ketchup und spielt den ganzen tag.

g.-zwilling erzählt von eve, ein sandbox-mmo-spiel, wo sich seit 2003 ganze zivilisationen bilden, wo man alles sein kann, was man will, in einer galaxie voller welten. fasziniert mich, auch wenn es in den erklärbärvideos eher um kriegsführung geht als um handel. „so ein titanschiff ist so groß, da kannst du nicht mehr steuern, da jumpst du dann irgendwo hin und bleibst da, bis der kampf vorbei ist“, so der moderator in einem let’s play-beitrag, als wäre die kämpferei, wie so ein reiner geldjob, eine notwendige, aber lästige verpflichtung, um im spiel bleiben zu können. einen geldjob muss sich der spieler in eve auch suchen, um weiterzukommen. erinnert mich an tad williams‘ otherland, in dem die menschen über physische plugins ins netz kommen und dort um ihr leben kämpfen, wenn ich das richtig erinnere. parallele universen. wenn ich da nur forschen oder reisen oder raumschiffe ausprobieren könnte, wäre ich dabei, mich interessiert die umsetzung von raum und weite in die wahrnehmung des spielenden, dabei ist das bestimmt das leichteste beim programmieren.

ich habe alle brettspiele wieder aus der kammer geholt vor zwei wochen oder so, bisher hatten wir ein paar zweierspiele wie boggle (ein paar zweier wäre einen versuch wert, das ginge auch zu dritt, wenn einer doppelt spielt), weil wir das gemeinsam spielen nicht mehr gewöhnt sind, das ganze konzept brettspiel ist uns aus dem fokus gerutscht. lust auf malefiz oder monopoly, werde es inszenieren, also etwas größer machen als die selbstverständlichkeit, die dem spielen gebührt in einer familie. meine höflichen kinder spielen dann meinetwegen mit, es fühlt sich nach schauspielerei an, es dauert eine weile, bis es wieder ums gewinnen geht, dann sind auch sofort die hahnenkämpfe der jungs wieder da, um coolness, pointen, gemeinheiten, dann sind sie wieder teenager und nicht fast keine mehr.

wir reden beim abendessen miteinander, wir wollten abwechselnd kochen, was nicht immer klappt, dann gibts es auch mal stullen. für gemeinsames programm wie spielen, filme, hunderunden verabreden wir uns, wir leben in unserer wohnung, als wäre es die welt, nicht ausgehen heißt im eigenen zimmer bleiben, ausgehen heißt küche oder wohnzimmer.

bisschen heiser, gliederschmerzen und großes schlafbedürfnis, gelegentliches niesen, kein husten, isf bei 130%.

1. april 20

falle sehr in einen ruhigen teil meines wesens zurück. ich bin mit wahrnehmung häufig schon ganz glücklich, mich stresst ja sonst eher der aufwand, den ich mit der welt treiben muss, bis ich mich wieder der kontemplation hingeben kann.

in den letzten wochen beim buchsortieren bin ich vom erwerb neuer bücher grundsätzlich abgekommen, ich hab so eine sehnsucht nach einrichtung und entstapelung, andererseits bin ich etwas bibliophil und liebe neue bücher, als versprechen wie als objekt, gerade jetzt, wo ich zeit fürs lesen habe. fürs versprechen gibt es den kindle oder secondhand oder bibliotheken, nur, was mich umhaut, darf bleiben, da werden vermutlich die meisten neuen bücher wieder gehen müssen, ich habe mich beim sortieren etwas radikalisiert, das trennen fällt mir leicht inzwischen.

die lust auf den gegenstand buch muss ich irgendwie anders bedienen. habs schon mit nur einem buch pro zeitraum x versucht, funktioniert nicht, da geht der lustgewinn verloren über die strecke, die extra großen und dicken bücher haben auch nicht geholfen (ach, da hab ich ein posting im entwürfe-ordner vergessen, über ein comic- und ein pop-up-buch. hol ich nach), im inneren karteisystem zählen sie auch nur als ein buch. in meiner not habe ich mir einfach eine komplett neue zweite bibliothek in die erste gebaut, in eine ecke von einem bücherregal. ich habe dafür winzig kleine bücher genommen, man kann sie zwar schlecht oder gar nicht lesen, aber ich konnte jede menge davon kaufen, und es passen noch mehr hinein, wenn es mich wieder überkommt. a library in a library, mit regalen, ein bisschen einrichtung. und mit beleuchtung. ein befriedigender und genügend alberner kompromiss. bisschen riskant niedlich, aber was solls, der ruf ist eh ruiniert. (massimo listri hat das bild geschossen, dass ich für die perspektive benutzt habe)

heute nur einen kleinen aprilscherz gemacht, von keinen anderen gehört, lange hunderunde gedreht, emma an der leine, kontakt mit familie und ein paar freunden gehabt, von den jungs wenig gesehen. sie haben lange zusammen auf dem balkon vom d.-zwilling gesessen und sich unterhalten. nicht gekocht, nichts gebacken, kaum haushalt, dauernd den wochentag vergessen.

23. märz

es ist so still.

diese texte über covid-19 sind wahrscheinlich das erste mal in 20 jahren interessant, oder bei der nächsten pandemie. ich habe schon einmal an einem jahrhundertereignis teilgenommen, aber anders als beim mauerfall springt der impuls zur dokumentation jeden an, der irgendein soziales medium nutzt. mir hilft das über die unruhe, es geht allen so, jeder spricht darüber. meine erinnerung an den mauerfall hat etwas ganz privates, meine eigenen bilder sind grundlegend anders als die aller anderen, sie sind nicht symbolisch oder repräsentativ, sie sind zufällig, erlebt und nicht gesucht. ob sich die bedeutung so einer geschichte für die biographie verändert, wenn alle ähnliche bilder damit verbinden? sind die bilder stärker als die erfahrungen, geht etwas verloren oder kommt was dazu? es wird eine unwucht in richtung bilder vs erlebnisse geben, wenn die blogs und reportagen nicht gelesen werden, ein grund mehr, auch banales aufzuschreiben. vielleicht reichen ja auch memes.

bei all der digitalen gemeinschaft vergesse ich zur zeit fast, mein alleinsein und die ruhe zu genießen, dabei bin ich sehr gern allein. die jungs halten ihre zimmertüren geschlossen, wir sehen uns beim essen, und wenn es etwas zu sagen gibt. also netz aus, buch und musik an.

heute, am ersten tag der anders genannten ausgangsperre, ist die ruhe viel deutlicher. man hört gar nichts mehr. auf der strasse waren am wochenende noch relativ viele passanten unterwegs, nur sehr wenige mit maske, die meisten hielten weniger als anderthalb meter abstand, beim bäcker gehen die leute dicht an mir vorbei durch die tür, ohne hochzuschauen, auch auf der strasse lässt sich fast niemand zu einem ausweichen hinreißen, weiche ich also selber aus. ich glaube, es geschieht selten aus einer entscheidung heraus, häufiger aus so einer art trägheit, einem beharren im normalen, es gibt noch keinen schutzreflex.

ich bin ein bisschen erkältet, habe zue ohren und einen kleinen frosch im hals, war bis vor einer woche in einem umfeld mit der höchsten erkältungsdichte überhaupt beschäftigt, einem kindergarten. der eine zwilling mit allergien und asthma hustet gelegentlich, einerseits ist es die jahreszeit dafür, andererseits hat ein kumpel gestern von einem coronafall in der familie berichtet, die beiden haben sich vor einer woche in einer größeren gruppe unter freiem himmel mit ellbogenstups begrüßt, trotzdem gab es natürlich eine gewisse nähe. es ist der zweite fall in der familie, der große hatte ja auch schon einen eventuellen kontakt, immerhin wird die quarantäne in dieser zweiten woche leichtfallen, weil alle mitmachen. in der ersten woche hatten wir keine, weil wir nichts von der infektion wussten, haben aber abstand gehalten, hände gewaschen und sind nicht ausgegangen, auch die söhne nicht. ohne die jetzt verordnete strikte isolation ist das virus unter jungen menschen nicht aufzuhalten.

wäre aufregend, wenn auch der gemeine schnupfen verschwinden würde.

bis auf bisschen gemüse für die hühnersuppe, und frischem obst, muss ich diese woche nix einkaufen, habe vor, dafür eine maske aufzusetzen. bin mir relativ sicher, dass wir bald alle eine tragen werden, wir haben zuhause noch irgendwo ein paar einzelne ffp3-dinger aus einer alten bestellung, ich könnte aber noch welche nähen, baumwolle und küchenhandtücher sind ein guter ersatz, wie es scheint. eine firma näht masken in diese schlauchschals, die über mund und nase hochgezogen werden, alle ausverkauft, das kann man sicher auch selber machen, ähnliche schals gibt es für wenige euros online, sie sind ein bisschen diskreter als die masken, zumindest, solang es noch nicht wärmer wird.

ich warte auf online bestelltes mehl, bei den letzten drei supermarktgängen waren die regale leer, es gab auch online lieferschwierigkeiten, aber heute kam die versandbestätigung. endlich backen! ich verwende das gute caputo-mehl, die mutterhefe überlebt damit schon ein jahr trotz gelegentlicher vernachlässigung.

die angst vor der leeren rolle

erinnere mich an das, was ich über die anale phase gelesen habe: autonomiebestreben des kleinkindes, lustgewinn durch erste kontrolle des körpers, manchmal ins autoritäre kippelnde sauberkeitskontrolle durch die eltern.

wir wollen und wir könnten, weil das system grade runterfährt, aber wir dürfen nicht, weil dann vielleicht etwas schlimmes passiert. die bürgerliche ordnung mit ihren regeln und dem sich fügen ist so fest in der psyche verankert, und die bedrohung reicht so tief ins subjekt, da wird auf frühkindliche erfahrungen zurückgegriffen. klopapier vermittelt vielleicht ein tiefliegendes sicherheitsgefühl, haben doch die eltern damit schützende grenzen vor die anarchie des kleinkindes gesetzt, die symbolische ordnung wird aufrechterhalten, und je größer die bedrohung, desto mehr klopapier.

irgendwo gelesen, dass in frankreich kondome und rotwein knapp werden, ein umgang mit revolutionären zeiten, der mir wesentlich unterhaltsamer scheint.

18.

leerer tag. frühmorgens die freude, dass der große negativ getestet wurde, er war in kontakt mit jemandem, der in quarantäne war, und hatte husten. in trier ist es wohl einfacher, sich testen zu lassen, er hat telefonisch bei der hausärztin um eine überweisung gebeten, die wurde an die drive-in-teststelle gefaxt, er ist hin, das fax war nicht angekommen, ist er wieder zurück zur ärztin und hat durch eine freundin die überweisung abgeholt. in der garage hat dann nach kurzer wartezeit jemand in schutzkleidung den abstrich gemacht, „aber die autoschlange war lang“, heute früh kurz nach sieben hat die praxis telefonisch entwarnung gegeben. die familie informiert, balkon gemacht, aufgeräumt, hund ausgeführt, keinen zugang gefunden zu was auch immer.

viele nachrichten geschrieben und gelesen, viel telefoniert, lauter alte freunde gehört, das war sehr schön. mit den zwillis diskutiert, grade zusammen gegessen. mein zeitgefühl ist noch nicht justiert, sonst ist sowas wie wochenende oder mittwoch mit abläufen gefüllt, die bis in die tieferen gefühlsschichten gehen, dort nerven oder freuen, erkennbar und planbar sind. jetzt ist es ein bisschen wie schiffbrüchig auf einer insel, oder ein traum vom spiegeluniversum, alles still mit winzigen leblosen bösewichtern. heut waren zum ersten mal alle läden zu, aber ich habe nichts mitbekommen. will eigentlich noch einen blumentopf kaufen. die strassen waren bei den hunderunden relativ voll, vor der apotheke standen die leute in anderthalb meter-abständen in der schlange, beim vietnamesen war es aber eng wie immer.

17. märz 20

erster tag zuhause, noch voll im hamsterrad-modus, bisher kaum freude über die freie zeit, ich habe schwierigkeiten mit meinem sonderstatus „risiko“ aufgrund von diabetes. ich brauche zwar gelegentliche kurze auszeiten während der arbeit bei hypos, bin deswegen aber nie tagelang ausgefallen. in den letzten monaten habe ich versucht, den diabetes sichtbarer zu machen, habe von schwankungen geredet, bolus-entscheidungen erwähnt, gesagt, dass ich die nudeln lieber nicht esse, weil mein wert grad nicht optimal steuerbar ist. seitdem ich loope, sind hunderte von diabetikern in mein leben getreten, es hat mir gut getan, nicht mehr allein damit zu sein. ich war nie krankgeschrieben wg diabetes, vom typ her habe ich da auch einen stolz entwickelt, in allem gesund zu sein.

den ganzen tag durch die leere stadt gesaust, es gab noch eine terminsache zu erledigen. hektisch bis in den abend. die realität hat mich noch nicht wieder, ich habe noch keinen zugang gefunden zur neuen situation, es bleibt sehr befremdlich, ich kann ja auf keine erfahrungen zurückgreifen, jedes wiedererkennen (sonntagsruhe) führt in die irre. es wird ein paar tage dauern, bis ich ein neues normal erreicht habe. im umkreis gehen die gefühle weit auseinander, von panik zu spott, ich bin pragmatikerin und ändere einfach mein verhalten wie angefordert. bin allerdings lebensgefahr und sehr konkrete angst um meine zukunft gewöhnt, corona ist da nur ein weiteres zusatzrisiko, wie bei dem diabeteskram tue ich, was ich kann, um die folgen zu vermeiden, und weiß doch um die grenzen meiner bemühungen. zufall, genetik und die umstände sind nicht steuerbar.

a bis z

in den letzten wochen habe ich meine bücher sortiert, nach alphabet, dabei alle doppelten reihen und stapel mit eingenordet. es war mühsam und hat lange gedauert, das aussortieren ging mit der zeit leichter, ich hab gemerkt, dass ich ein kind meiner zeit bin und eher auf neuere als auf ältere autoren verzichte, wenn ich mich weder an den/die autor/in noch an den inhalt erinnere, hab ich das buch rausgenommen. es sind sehr viele geworden, sie liegen im flur gestapelt, ich darf sie nicht wieder anschauen, bis ich einen abnehmer finde, will aber auch nicht drüberfallen, das wird also eine herausforderung.

beim bücher räumen bilder im kopf, wie die wohnung irgendwann einmal einem entrümpler überantwortet werden wird, für den all das nur gewicht und aufwand ist, oder meinen kindern, die auch nur ein paar autoren davon kennen und wenig behalten werden, vermutlich, wer weiß schon, wie sie sich entwickeln. wir leben in der gegenwart, für die gegenwart. sentimental geworden, den klardenkenden d.-zwilling in ein gespräch ziehen wollen über die vergänglichkeit, aber er hat mich gleich wieder auf den weg gesetzt („entscheide einfach, wieviel platz du brauchst“).

hinter einem zugestellten bild ein din a3 – großes fotobuch entdeckt, dream house von gregory crawson, auf den bildern lauter interieurs mit menschen drin, die menschen sind schauspieler wie tilda swinton oder william h. macy. auf jedem bild scheint gerade etwas passiert zu sein, oder wird gleich passieren, aber wir wissen nicht, was es ist. der blick darauf wirkt voyeurhaft, sie haben spannung, wirken wie filmstills, mitten aus einem geschehen heraus. in keinem der zimmer stehen bücher. gedacht, dass bei mir die bücher die geschichten erzählen, hunderte, andauernd, und keine ist ein geheimnis, keine erlangt bedeutung durch mein unwissen über das, was war oder sein wird. ich muss sie nur öffnen und weiterblättern.

kw 6

seit zwei wochen krank, zur arbeit wegen dramatischer personalsituation. jetzt total kaputt, familie, haushalt und hund sind kaum zu managen. g.-zwilling fährt ab montag mit interrail durch europa und besucht seine freunde, die auf fsj oder jobs dort sind. die kids wollten damals keine sozialen jahre oder ähnliches und werfen mir ein bisschen vor, dass ich es nicht einfach für sie organisiert habe. mir ist die eigeninitiative wirklich wichtiger, aber das ist natürlich auch eher eine bequeme haltung bei knapp volljährigen. habe allerdings schon so genug zu erledigen. d.-zwilling wird keine große reise machen, er will das auch nicht, vielleicht hätte ich ihn mehr begeistern sollen – es ist nie genug. es ist viel. nie genug.

(edit: was rausgenommen)

ach, erstmal auskurieren, dann wird das alles wieder, und das licht kommt ja auch zurück.

wo sind mit diesem nervigen neuen wordpress-layout denn die kategorien hin? finde ich nicht. mag nicht suchen, muss einkaufen gehen. aufräumen.

kirill petrenko beim silvesterkonzert

kirill petrenko hat sein orchester gefunden. ein aufregender abend, mit broadway-musik, die ich zum ersten mal richtig gehört habe, es hat sich angefühlt wie: zum ersten mal überhaupt gehört. mit petrenko klingen gershwin und bernstein komplex und schillernd, grad die bläser und das schlagzeug hatten eine selbstverständliche feinheit und genauigkeit, wie ein puzzlestück, das zum ganzen dazugehört und trotzdem eine eigene, unterscheidbare schönheit hat. ich hab sie wahrgenommen, aber das gilt fürs ganze stück, keine ahnung, wie petrenko das bewerkstelligt, die musik wie besonders scharf gezeichnet. arbeit an den tempi und einsätzen? wie eine dieser bildserien von fraktalen, wo der fokus vom ganzen immer tiefer ins detail saust, und dabei in seiner genauigkeit nicht nachlässt. es ist alles so fein und klar herauspräpariert. das konzert war dabei fröhlich und sehr lebendig, petrenko schwingt die ganze zeit, lächelt, tanzt seine interpretation beim dirigieren vor, als würde er nur zuhören, nicht selber dirigieren. er wirkte fast selbstvergessen. die arbeit hat vorher stattgefunden, er soll als arbeitstier intensiv proben vor den aufführungen, beim konzert sieht es nicht mehr wie arbeit aus, eher wie eine feier der musik. sehr schöner abend. 3 zugaben, x vorhänge, er bedankt sich jedesmal bei den solisten und der sängerin, diana damrau, die als solistin mit den gesamten philarmonikern im hintergrund frei und souverän gesungen hat. es waren wirklich alle auf der bühne, 3 saxophone sind noch dazugekommen, eine junge paukistin mit riesiger trommel, ein vibraphon, pauken, eine harfe, es war alles dabei.

auf die sopranistin hab ich bisschen zuwenig geachtet, saß mit meiner mutter im bereich E, seitwärts vom orchester, mit blick auf den dirigenten, die sängerin hat mehr nach vorne zum publikum gesungen.

ich wusste nicht, was anziehen, habe keine elegante kleidung mehr. der große meinte zu meiner auswahl: irgendwie leger, aber man solle ja der bürgerlichen übereinkunft nicht immer folgen, da habe ich widersprochen, ich ziehe mich auch zu ehren der musiker vorher um. die bürgerliche übereinkunft empfinde ich inzwischen als eine recht tröstliche angelegenheit.

neben mir saß eine ältere dame in einem bodenlangem, mit gold und silber bestickten kimono, sie saß die ganze zeit aufrecht vorne an der sitzkante, wegen der großen schleife im rücken. ihre familie ebenfalls elegant, aber nicht so klassisch. es war ein internationales publikum, viele sprachen in der pause gehört, habe ein paar kimonos gesehen. eine japanische familie ist nach dem konzert, als die musiker gingen, nach vorne gekommen, um dem sohn am fagott zu gratulieren, mit daumen hoch und beifall.

lichter, gedenkfeier

schon wieder in der kirche gewesen, diesmal eingeladen unter schweigepflicht. die kirche sollte voll werden, was einem abend um 18 uhr unter der woche nicht einfach ist, es waren aber wesentlich mehr menschen da als neulich am sonntag, weil die idee ganz schön war, nacht der lichter, zum gedenken an den 9.10.1989, als die ostler in der gethsemanekirche zuflucht gefunden haben vor der draußen prügelnden stasi. die frau neben mir ist dabeigewesen und erzählt, wie sie über den zaun aufs kirchengrundstück geklettert ist, und es ist ein zaun mit sehr spitzen stäben, der ist dem d.-zwilling und mir aufgefallen, als wir zum nebeneingang gelaufen sind, weil der haupteingang blockiert war, „adrenalin war das“ sagt sie, und wie sie nicht wusste, was da grade passierte alles. eine frau im rock mit leopardenmuster und passendem tuch, blodes haar, roter lippenstift, verteilt programme. es ist auf den letzten drücker noch fast voll geworden.

die pfarrerin jasmin el-manhy begrüßt uns, dann liest eine schauspielerin, deren namen ich vergessen habe, aus einem buch über den herbst ’89 in der gethsemanekirche vor. „wachet und betet“ stand damals draußen an der kirche, eine nicht unmittelbar politische, aber doch klar verständliche einladung zur aktivität, zur aufmerksamkeit, zum widerstand, wenn auch im gebet. die kirche war an dem abend voller menschen, dicht gedrängt sitzen und stehen sie im raum, ein foto ist auf einem großen schicken bildschirm zu sehen. el-manhy liest einen psalm, der mir gut gewählt erscheint,

weil in der der ersten reihe angela merkel sitzt (drei reihen vor uns, so nah komm ich der macht nie wieder. sie trägt bordeaux). nach einem lied lesen jugendliche aus tagebüchern vor und verbinden den damaligen widerstand, der tatsächlich zu einer revolution geführt hat, mit dem heutigen, der mindestens zu einer wende führen muss. einer der jungen leuten sagt dabei ein paar zeilen, die der bischof, der natürlich auch da ist, in seiner kurzen rede („ansprache“) wieder aufnimmt, sie mussten protestieren, weil sie es für richtig hielten, diese konzentration auf einen zentralen menschlichen aspekt bei der wende, die gemeinsamkeit, dass es allen zuviel wurde, dieses geheimnisvolle kippen der verzweiflung und unzufriedenheit in die gewissheit, jetzt etwas tun zu müssen. er verbindet es immer wieder mit der heutigen lage, das wort selbstwirksamkeit fällt ein paar mal, meine ich zu erinnern. man spürt seine große betroffenheit über das attentat in Halle, „am jom kippur“, er erwähnt es mehrfach.

immer wieder sehr höfliche ermahnungen, auch in gebetsform, doch bitte irgendwas zum erhalt der schöpfung zu tun, sicher auch an die kanzlerin, aber eher indirekt. es dauerte knapp über eine stunde, am ende zünden alle eine kerze an und singen dabei, in einem sehr leichten und eigentlich in seiner vielstimmigkeit gelungenem kanon „dona nobis pacem“, während die kanzlerin mit mann und herrn platzek und herrn de maiziere und ein paar agenten die kirche wieder verlässt. ich denke, sie wollte aus eigenem antrieb herkommen, sie war ja schließlich dabei, im oktober 1989, in der gethsemanekirche. schade, dass sie nichts davon erzählt hat, notfalls impromptu.

keine öffentliche ankündigung und also auch keine öffentlichkeit. kameras waren aber dabei, mal schauen, vielleicht kam es irgendwo. eigentlich ganz gelungener abend, findet die gemeinde, ich mochte auch das nüchterne, nicht hochkandidelte. paar lieder, paar gebete, paar texte, kein brimborium. sehr protestantisch.

veränderung

sie haben einen großen modernen kinosaal in der anlage, einen 12m-pool, eine offene bibliothek mit tischen, lampen und einem relativ aktuellen katalog. die wohnungen („appartments“ sagen sie dort, das große ganze immer mitintendiert) sind zwischen anderthalb und drei zimmern groß, der speisesaal ist schön eingerichtet, die richtigen lampen, sehr freundliches personal, geradezu fröhliches personal. die älteste bewohnerin ist 106, sagt uns die frau, die meiner mutter alles zeigt, die jüngste mitte sechzig, der schnitt liegt beim alter meiner mutter, bei 85 jahren, das ist nicht ohne, nicht ohne, wo ich selber doch nur einen menschen in dem alter kenne. wir bleiben zum mittagessen. die bewohner auffallend elegant, mit gold und silber geschmückt, feine wolle, die männer in sakko und hemd, einer im lodenjanker, weißes haar, niemand färbt es sich noch ab alter x. meine mutter ist noch eher blond, vielleicht ist das ein einzugsritual, der abschied von der vergangenheit? ist nicht mehr und wird nicht mehr werden. paar rollatoren, „aber die sind dann auch schon 20 jahre hier, sind hier alt geworden“, paar rollstühle. mich würde glaube ich die ganze eleganz stören, das gediegene, ich empfinde das als zur schau gestellten wohlstand, ein auffälliges gleiche-unter-gleichen, vielleicht nur, weil ich nicht dazugehöre mit meinem einen kaschmir im regal, diese menschen haben halt einfach kein h&m im schrank, die können sich das ja nicht aussuchen, nicht mehr aussuchen, ihr leben hat die feine kleidung hinter ihnen angehäuft. sie kennen es nicht anders. die frauen sehen interessant aus, ihre verschiedenheit fällt mir auf, sehen sich doch alte leute oft ähnlicher als jüngere, weil ihr alter das erste wahrgenommene ist, von meinen zarten 50plus jahren aus betrachtet. ich bilde mir ein, ihnen ihre guten leben ansehen zu können, weiß aber nix natürlich. vielleicht waren sie einfach besonders schön, und nicht besonders interessant, im alter fällt das ein bisschen ineinander. sie bringen bestimmt einen großen teil ihres lebens mit, wenn sie in so einen alterssitz umziehen, und müssen viel zurücklassen, wie das eben so ist.

ein bisschen kreuzfahrt war das heute, wo die leute aus ihren kleinen kabinen immer in abendgarderobe erscheinen.

meine mutter passt da hinein und wieder nicht. „diese ganzen alten tanten“, sagt sie, es fällt ihr aber dann noch auf, dass sie selber dazugehört. männer gibt es deutlich weniger. ihre berufe kann ich frauen und männern nicht ansehen, kann ich aber bei gleichaltrigen auch nicht gut. ein mann sieht noch ein bisschen nach baumogul aus, auch wenn der körper hinter dem dominanten kinn schon zu verschwinden beginnt, bei damen würde ich nie nach baumogulinösem suchen, da sehe ich eher akademische berufe. die paare unterhalten sich miteinander, nicht alle, einige reden nur einen satz zum menue. die menschen sind ja zuhause dort, ich weiß nicht, ob der repräsentative anteil der eigenen existenz in den hintergrund tritt, wenn man jeden tag im restaurant isst. finde ich interessant, welchen preis so eine normalität hat, sicher hält es die leute auch beieinander, wie jedes ritual.

eine bekannte, die dort schon lebt seit ein paar jahren, rät meiner mutter zum hinwarten, vermisst ihre wohnung und vielleicht auch die realität, oder sie ist ihre einsamkeit dort nicht losgeworden, und dann ist das endgültige noch dazugekommen. es hängt vielleicht davon ab, wie wichtig das zuhause für die identität ist, wie sehr man die sehr pragmatischen grundrisse und die neubauödnis wahrnimmt im lebensalltag. wie es einem geht vorm umzug. aber schöne holzböden auf den balkonen.

ich will dauernd „im alter“ schreiben: so ist das eben im alter, weil darauf alles hinausläuft, so einen lakonismus, die akzeptanz des todes. die zimmer werden frei, wenn jemand gestorben ist, das wissen ja alle, da zieht keiner mehr aus, da sind sich alle bewohner gleich, vielleicht werden sie deshalb alle mit namen angesprochen, bei jeder begegnung, weil angesichts des großen gleichmachers der namen ans leben als einzelner und einziger erinnert, das die menschen ja hier auch noch leben, zu ende leben, päng, da ist er wieder, der tod. dieser aspekt macht mir auch noch schwierigkeiten, glaube ich, dass die mutter als ewige präsenz an einen ort umziehen will, an dem nix mehr ewig währt. ihr sicher auch, bei aller norddeutschen resolution. das verfliegt aber auch wieder beim dort herumlaufen, sobald man sich daran gewöhnt hat, im alltag ist eh mehr gegenwart, das ende fern wie immer. bei abwesenheit von schmerz und not, natürlich. oder nicht? bin ich gespannt drauf.

„sie denken darüber nach, sich zu verändern?“ fragte die mitarbeiterin und rät zur baldigen entscheidung. wenn man schon pflegestufen hat, wird man wohl nicht mehr genommen, lieber sind ihnen aktive senioren, die die arbeit des kulturrates zu würdigen wissen, ende des monats kommt walter momper und erzählt von der wende, ein film mit burt lancaster wird gezeigt, es gibt lesungen und konzerte. eine wasserreise und eine landreise pro jahr, „sehr begehrt“.

 

ich habe bilder von angelina jolie immer gern angesehen, diese art von schönheit, die auch im dunkeln erkennbar ist, weil alles im gesicht so groß und ausdrucksstark ist. eine schöne frau, halbwegs engagiert, irgendwie in ordnung. grade über irgendeine doofe facebook-werbung ein interview gelesen, indem sie eine massive esstörung beschreibt („obsessed with weight loss“), ohne dass sie oder sonst jemand das so benennt, endend in werbung für eine von ihr vertriebene diätpille of all things, die den stoffwechsel in ketose versetzen soll, einen zustand, der in notlagen wie hunger und krankheit auftritt, und bei diabetikern zur ketoazidose führen kann, einer ernsthaften und lebensbedrohlichen stoffwechselentgleisung. sie verdient damit geld. unfassbar, ein paralleluniversum. bin doch ein bisschen enttäuscht, ich hielt sie für halbwegs intelligent, also nur soweit ich sie überhaupt für etwas gehalten habe. da hat ihr marketingexperte nicht aufgepasst. hoffentlich enthalten die pillen nur placebos und keine pharmakologisch wirksamen bestandteile, die wären unter umständen ordentlich gesundheitsschädlich. schon verschiebt sich die wahrnehmung von ’schön‘ zu ‚ausgemergelt‘, von außergewöhnlich zu einer von vielen, die von ihrem aussehen leben. vielleicht ist das für sie ja auch ganz erleichternd, endlich sein zu können, wer sie ist. schaudernd ab

gigi pedroli in laveno

von der strasse aus sieht man nichts, glatte fassade, l-form, eingang über einen kleinen hof. gegenüber vom vanoli, hat mir b gesagt, dem bei den jungs sehr beliebten eisenwarenladen an der hauptstraße. ich sehe ein schild und finde meinen weg, oben im ersten stock sieht man schon menschen stehen. drinnen ein palazzo, wunderschöne holzböden, neben dem saal zwei kleinere zimmer, aus dem saal ausgang auf eine art veranda, die auf einen park führt, der fast direkt und 100m steil den berg hinaufführt, strukturiert durch eine große filmreife freitreppe.

immer diese versteckten schätze! ich komme rechtzeitig zu den reden, gezeigt wird ein mailänder künstler, jahrgang 1932, mit vielen radierungen, stichen und zeichnungen und ein paar skulpturen. mich erreichen die sachen sofort, figurativ, kleine geschichten erzählend, ein bisschen wie incipits eines sehr schönen buches, zwischen 100 und 500€ kosten sie.

sie ähneln den arbeiten von enrico baj, den wir in mailand damals viel an der wand hatten, von einem kupferstecher aus dem bekanntenkreis vermittelt, und richtig hat auch pedroli eine druckwerkstatt mit schulungen und kursen an den navigli, im palazzo galloni, einem der ältesten häuser der stadt, es stand praktisch schon vor der stadt da, war herberge inmitten von wiesen, direkt am naviglio gelegen. er hat es ende der sechziger erstanden.

(ende des 15.jh wurde leonardo da vinci damit beauftragt, in mailand ein schleusensystem zu entwickeln, um die navigli als transportweg nutzbar zu machen. der marmor und das kastanienholz für den bau des mailänder doms wurden über das kanalsystem aus dem tessin auf großen flößen in die stadt geschifft, jeder kam dort vorbei, leonardo war dort eine weile zu gast, so sagt die legende, und hat im ersten stock des palazzo galloni die dame mit dem hermelin gemalt. das erfahre ich nachher vom bekannten, in den reden gab es nur elegante andeutungen, wie es sich ziemt im umgang mit diesen geschichten. pedroli hat die dame ebenfalls in einigene kleinen bildern angedeutet, man erkennt den halsschmuck und den ausdruck.)

getränke und imbiss gibt es im garten und auf der terasse, nachher erzählt mir der bekannte die geschichte des hauses, in dem eine alte dame bis zu ihrem ende gelebt hat, sie hat das haus der stadt vermacht, ein familienangehöriger hat das testament angefochten, der streit dauerte zwanzig jahre, in denen die villa leerstand. die stadt hat 2016 endlich gewonnen, mit der auflage, die villa für kulturelle belange zu nutzen. der freund hat sie bisschen modernisiert, mit einer kleinen gruppe von kulturleuten organisieren sie seitdem austellungen, lesungen, konzerte. ich kenne ein paar besucher, andere lerne ich kennen, vergucke mich in eine kleine arbeit (ich-hab-keinen-platz, keinen platz, keinen platz einself, und außerdem gibt es ihn auf ebay), schnorre eine zigarette und werde nachher mitgenommen in ein restaurant, wo wir alle noch ein paar stunden essen und weiterplaudern können.