13. august 20

wunder der zeitwahrnehmung. kommt mir vor wie ein vier wochen-urlaub, dabei highlights wie aus dem katalog: packe grad ein, um vom strand nach hause zu fahren, freund ruft an, ob ich mit boot fahren will, warte auf sie im hafen des kleinen dorfes, es ist eins dieser traditionellen holzboote aus lärchenholz, mit verdeck und außenborder. sq. erzählt, er habe als junger mann mal in einer werkstatt gearbeitet, vor 40 jahren, da habe ihm der besitzer das boot geschenkt, er habe es dann irgendwo aufbewahrt und es jetzt, nach seiner pensionierung, überarbeitet und „mal gestrichen“. es ist wunderschön. wir tuckern rüber zu den inseln, auf der isola dei pescatori warten wir auf den fährmann, der die gäste aus ihren booten abholen muss, so ein fährmann wie die bootsführer in den italienfilmen der 60er, mitte fuffzig, grauharig, trainiert, zahnpastalächeln, ringelshirt, er ist der besitzer oder pächter des restaurants italia. wir klettern rüber auf sein ruderboot und steigen am steg wieder aus. es gibt fisch, neben uns sitzt ein politiker der lega mit seiner familie, einhellig verabscheut, bis er wieder auf seine jacht gebracht wird. bei der abfahrt wollen uns die söhne des fährmanns fahren, aber er winkt ab, no, no, faccio io, die söhne genauso prächtige burschen (oder ist das vierziger? schnieke ragazzis halt) wie der vater.

unter sternen fährt sq. uns über den see zum kloster s. caterina, wo ich dieses jahr zum ersten mal nicht mehr war, seit es eintritt kostet und die coolen nonnen ihren laden dort nicht mehr haben, mit honig, salben und kleinen benediktiner-souvenirs. wir haben immer sehr gern mit ihnen geplaudert, eine kam aus berlin und hat sich über all die jahre die namen der jungs gemerkt und jedes jahr nach ihnen gefragt, wenn sie nicht dabei waren. habe sie gesucht letztes jahr, ohne glück, ich weiß nicht, wo sie sich jetzt niedergelassen haben, ob es ihr geschäft noch gibt. oben auf dem kirchturm ist ein hell erleuchteter raum, das ganze gebäude trägt festbeleuchtung, man sieht aber keine menschenseele mehr, es ist zwischen 22 und 23 uhr. auf der rückfahrt begegnet uns die fähre, riesig und schnell so im dunkeln, sq. macht das licht an, damit man uns sehen kann. eine villa gehört berlusconi, der überall in italien villen hat, eine andere einem etwas flamboyanten menschen, der überall blaugrüne lichter aufgestellt hat, es sieht aus wie eine schlumpfburg, meint sq., nur oben auf dem dach leuchtet ein stones-mund in rot, der anleger ist mit riesigen bunten monroe-drucken dekoriert. ein paar lagerfeuer am strand, erinnerungen! natürlich. als wir wieder in porto ankommen, fährt ein fischer gerade los, sein netz auslegen. falls sq. sich mal langweilen sollte, es wäre ein perfektes touristisches angebot.

noch eine corona-episode: meine 86-jährige mutter wollte sich testen lassen bei einem vertretungsarzt und musste das selber tun. es ginge nicht anders, sie hätten das wartezimmer voller menschen. sie hat das stäbchen in die hand bekommen und hat den abstrich im bad der praxis selber vorgenommen, obwohl sie nicht mehr gut sehen kann und nur eine sonnenbrille dabei hatte. der test war negativ.

den großen mit seiner kleinen reisegesellschaft in luino abgeholt, wohin sie der bus aus lugano gebracht hat. bis lugano ging die bahnverbindung von trier, danach war es stückwerk, die seen-gegend ist nicht gut erschlossen mit öffentlichen verkehrsmitteln, ohne auto ist man von zufällen und fahrplänen mit großen löchern abhängig. am nächsten tag habe ich sie zum flughafen malpensa gebracht, wo es eine große menge an autoverleihfirmen gibt, auch das fehlt in den städtchen direkt am see.

beim essen haben alle von sich erzählt, ich also von berlin und meiner zeit in der stadt. was, es gab eine mauer um berlin? es gab ein west- und ein ostberlin? was war in ostberlin? man konnte nicht einfach rein und raus? blankes staunen, diese mittzwanziger wussten das nicht. ich hab mich viel älter gefühlt, weil sie selbstverständliches aus meiner vergangenheit nicht wissen, nie gelernt haben, wahrscheinlicher: wieder vergessen, weil nicht relevant fürs eigene, sie sind nach dem mauerfall geboren, ihre zeitachse beginnt ja erst dann. wie zentral und selbstverständlich für mich die teilung ost/west war, für meine politische selbstwahrnehmung, für mein heimatgefühl, für meinen umgang mit der welt und der geschichte, wie klar man das damals für alle zeitgenossen vorausgesetzt hat, dass diese teilung irgendwie ihr leben bestimmt hat, einfach dadurch, dass man eben hier oder da geboren wurde. schön, wenn nichts davon bleibt, schade, dass es nichtmal erinnert wird.

das leben vor der wurst

ich esse sehr gerne fleisch, ich mag den geschmack, das ritual beim zubereiten und essen, die weihnachtsgans, das osterlamm, die steaks an sommerabenden, lasagne und ragù und königsberger klopse, die salamis auf den ausflügen. in den letzten jahren habe ich nur noch bio-fleisch gegessen, mit engeren finanzen verschob sich das wieder, weihnachten gab es dithmarscher gänse, die sind nicht bio, der züchter ist aber vertrauenserweckend und die gans kostet statt 150€ nur 70€.

beim aufschnitt hatte ich eine art passendes und bequemes blackout, habe entweder von der theke oder dem regal abgepacktes in massen gekauft, weil der umsatz hier sehr hoch ist. vor ein paar wochen hat die nachrichtenlage um tönnies mir das thema aufgezwungen, und meine söhne liegen mir eh schon länger in den ohren. es sind nicht nur die absoluten pfenniganbieter, die da herstellen lassen, es ist eine große gruppe von produkten, die aus solchen schlachthöfen stammt. vielleicht, hoffe ich, sparen die züchter beim schlachten, um mehr geld für die haltung übrig zu haben? das kann jemand herausfinden, der geld für die recherche bekommt, ich glaube aber eher nicht.

nach der letzten niederlage des mitgefühls vorm gesetzgeber kann ich das nicht mehr, ich kann das zeug nicht mehr essen, das von leuten wie tönnies hergestellt wird, einer firma, die nicht nur dem tierwohl nicht die mindeste beachtung schenkt, sondern auch die mitarbeiter ausbeutet und entrechtet. menschen wie tönnies sind herzlose gewissensfreie großkapitalisten (die erste wortwahl habe ich gelöscht, aber nur aus juristischen gründen), denen ich keinen cent überlassen will, damit sie ihre unethischen geschäfte weitertreiben. der gedanke an die menschen hinter den tieren hat mir sozusagen den rest gegeben, und die erkenntnis, dass es für die tiere noch ewig so weitergehen wird. es war ein twitterbild von einer sau in kastenhaltung, ab der sekunde war bei mir die wurst am ende. es war ab dann ganz leicht.

selbst die produkte mit abzeichen für tierwohl sind ja im wesentlichen billige kompromisse, ob es nun einen meter mehr oder weniger pro tier gibt, ist nur ein unterschied zwischen folter und quälerei, wobei halt, ein meter? ein meter wäre luxus und nicht zu bewerkstelligen, es geht zb bei tierwohl-klasse 2 um läppische 10% mehr als die gesetzlich vorgegebene mindestgröße, wobei ich keine ahnung habe, was mit der mindestanforderung „0,825m²“ gemeint sein könnte, pro schwein etwa? bei hühnern sind es unsagbare 53kg tier pro quadratmeter, das scheint mir quälerei, ohne further ado. bei rindern sollen in anderthalb quadratmeter raum im schnitt 150kg tier unterkommen, das geht eigentlich nur, wenn man die kuh faltet oder sonstwie umformt. tierwohl ist eine irreführender name, ein riesiger euphemismus, im grunde eine frechheit.

bei wurstwaren haben die hersteller bisher die kennzeichnung verweigert, und das heißt nicht, dass ihnen das tierwohl selbstverständlich ist und sie nur deshalb nix kennzeichnen, wie es zb das kindeswohl bei mir ist (darum schreib ich wenig über meine kinderhaltung, ich gehe davon aus, dass es selbstverständlich ist, nur das bestmögliche zu tun und dass die grenze, auch bei wenig geld, sich weit jenseits der grenzen der vernachlässigung befindet, wobei ich mit vernachlässigung die missachtung von grundbedürfnissen meine. mein kind trägt schuhe und wird bewegt, auch wenn es nicht tennis und nicht adidas yeezy boost sein müssen. bei der tierhaltung ist es selbstverständlich, nur das billigste zu tun, de facto bedeutet das, nur das überlebensnotwendige, weil ungenutzt sterbende tiere nicht rentabel sind, ohne weiteres kriterium, weil es den leuten nicht klar ist, dass tiere gefühle haben und leidensfähig sind und man demzufolge nicht ausschließen kann, dass sie eine seele haben, womit die praktizierte tierhaltung guten gewissens eine hölle genannt werden darf. living hell. ja sorry, ich reg mich grad auf. solche texte habe ich in der vergangenheit nie fertig gelesen, weil ich eben weiter fleisch essen wollte. das ist vorbei, ab jetzt lese ich sie nicht mehr, weil ich den kram ja nicht mehr esse, und es wie bisher nicht aushalte. harhar.)

es gibt also nur noch käse für die stullen. ich kann gar nicht fassen, dass es bei mir solang gedauert hat. man sollte diese mindestanforderungen graphisch darstellen und an jeder fleischtheke platzieren, aber nein, halt: jetzt gehört natürlich die unterbringung der milchkühe für die käseherstellung auch ins thema, vielleicht ist es bei denen noch schlimmer, weil die tiere da ja länger am leben bleiben. mindestens haltungsform premiumklasse, am liebsten wäre mir eine haltungsklasse „paradies“ oder so, wo die kühe, schafe und ziegen sich aussuchen könne, ob sie bleiben oder nicht.

aber wo finde ich das siegel auf den käsepackungen? es bleibt nur eine vegane ernährung, oder das bio-siegel, dass ich mir beim umsatz der jungs eigentlich nicht leisten kann. ich werde gemüse auf stullen propagieren, bis sich herausstellt, dass gemüse auch gefühle hat.

16. juli 20

ärgere mich immer noch über den kalten sommer, weil ich die energie für die harten berliner winter im sommer sammeln muss, dazu soll es ein paar wochen lang sicher sein, dass der nächste tag wieder ein sommertag wird, hell und heiß und sonnig, und man muss keine sekunde drüber nachdenken.

ich muss unbedingt noch ein paar wochen in den süden, habe mir vorgenommen, nach abgabe der facharbeit zu reisen, an der ich grad sitze für so ein zertifikat, aber mit der komme ich schlecht voran wg meiner eingebauten nahtlos integrierten arbeitsstörung. helfen tut eine virtuelle bürogemeinschaft mit einer freundin und ein allabendlicher checkin mit einer anderen freundin, trotzdem ist das blöde ding noch nicht vorzeigbar, obwohl es inhaltlich keine herausforderung darstellt. werde es wahrscheinlich wie ein junger mann aus der verwandtschaft am letzten tag fertig schreiben und hoffen, dass die note irrelevant ist. er hat für seine letzte arbeit eine zwei bekommen, aber er ist halt noch schnell im kopf, und es waren nur 5 seiten.

ich könnte ja, wenn die kinder aus dem haus sind, einfach in den süden ziehen, wo es noch sommer gibt, werde mir dann allerdings auch bei vermietung meiner schönen altbauwohnung nur eine viel kleinere wohnung leisten können, ein drittel bis halb so groß, wegen der neuen mietobergrenzen in berlin, die es woanders nicht gibt, auch nicht in italien, wobei halt, in den siebzigern gab es den equo canone, der meinen eltern eine riesige 200m²-wohnung im zentrum von mailand ermöglicht hat, mit dachterasse, für ca. 1000 dm im monat, ca. 1 million lire. andererseits sind die löhne im süden ja auch höher, dann hält es sich vielleicht die waage. bayern! freiburg! da gibt es auch nettere männer.

hier ist ein allgemeiner corona-missmut eingetreten, natürlich nicht bei den jungs, sondern bei mir. einen test habe ich schon absolviert wg einem husten, negativ zum glück. ob das die neue normalität wird, ein test bei jedem symptom? ich bin immer noch vorsichtig, trage masken etc., bei den söhnen bin ich mir in deren entspannten momenten nicht sicher. ich glaube nicht, dass junge leute weiterhin abstand halten, abends im park, zuhause bei freunden, gar nicht mal mit absicht, es wird einfach vergessen. g.-zwilling macht ein praktikum in einer metallfabrik, da trägt keiner maske. ich hoffe, berlin ist über den berg.

mich nervt die losgelöstheit dieses jahres, in dem ich noch so wenig erwirtschaftet habe, mir fehlt der alltag mit kollegen, mir fehlen selbstverständliche abläufe, die ich nicht immer im kampf gegen innere freiheit absolvieren oder gleich komplett in frage stellen muss. die zwillis setzen sich zuwenig ein, machen zuwenig im haushalt (obwohl sie gut erzogen wurden), es kostet und verschluckt mehr energie, als wir zur verfügung haben. naja, es wird wieder besser werden, die fahrt geht ja weiter. wir sind leere hüllen, aller geist verschwimmt im großen see der ausnahmeregelungen, nichts ist mehr sicher, kein termin steht. regelungen segelungen, die takelage hält nicht stand, das boot treibt ab und verschwindet im dunst, wo es bestimmt nachts von piraten überfallen und versenkt wird.

ahoi.

29. mai 20

zwillinge machen einen leider nur zwei tage langen ausflug mit dem zelt, verschiedene campingplätze an verschiedenen seen im umland. grade ist der zweite endlich los, nach stundenlangem herumlaufen, kopfhörer suchen, zelt suchen. ich könnte jetzt endlich ungestört am schreibtisch sitzen, aber komme schwer aus dem netz, wo twitter heute zum ersten mal einen tweet von trump mit einem warnhinweis versehen hat, was viel weniger wichtig ist als die lage in minnesota, wo nach dem brutalen mord an george floyd* durch einen polizisten die bevölkerung protestiert, nachdem der mord per video dokumentiert und online gestellt wurde.

schreibe das auf, weil ich fast hoffe, mich in einem jahr nicht mehr an die genauen umstände erinnern zu können. ich hoffe, dass es vorbeigeht, wie bisher immer, dass die ganzen gewaltaufrufe und bürgerkriegsbeschwörungen im netz bleiben, produkte von trollhorden und ein paar extreminskis. dazu bilder aus ungarn, wo heute gegen roma, gestern gegen schwule und lesben demonstriert wurde, mit feuer und gebrüll, klar als bedrohung inszeniert. ich konnte bisher solche fotos sofort einordnen, als einen kleinen, eben besonders gern fotografierten teil einer situation, nicht repräsentativ für die bevölkerung oder auch nur das nähere umfeld, in dem das bild geschossen wurde. das klappt nicht mehr so leicht, diese bilder stehen inzwischen für die regierungen dieser länder, trump fordert gewalt ein, kriegt dafür hunderttausend likes in ein paar stunden, ungarn kriminalisiert per gesetz die lgbt-menschen, um zwei besonders niederschmetternde ereignisse mal herauszugreifen. das ist totaler wahnsinn, aber es geschieht tatsächlich. mich beunruhigt das.

ich bin so nachhaltig entzaubert von den checks and balances, die nicht stattfinden, es ist, als gäbe es die gar nicht, es scheint, als ob es für jeden dieser männer den passenden hofstaat gibt, der sich zu erkennen gibt und mitmacht, wenn sie an die macht kommen, da kann trump so viele feuern wie er will, es kommt immer einer nach. das ist die menschheit, es ist normal und sollte nicht wundern.

ich rechne es runter, es sind nur vier bis 8 jahre in einem jahrhundert, ein land unter vielen, die welt ist groß.

trotzdem freude darüber, dass twitter endlich irgendwas tut, es ist hoffnungsglimmerkram, wie das rumgerenne des zwillings heute früh, wie meine mutter, die dinge wie dorschleberpastete auf dem einkaufszettel hat, meine schwester, die über 30° in rom klagt, die freundin im virtuellen büro, die erste hunderunde in sandalen, das private als schutz vorm weltgeschehen, aber es fühlt sich unpassend an.

(klappt heut schlecht.)

ach, und der guardian meldet, dass typ 1-diabetiker um eineinhalb drittel häufiger an corona sterben als nichtdiabetiker. wir bekommen es zwar nicht leichter, aber sind in größerer gefahr, wenn wir es bekommen. ich halte das mit solchen statistiken so wie mit allen, die mich betreffen, ich formuliere sie undramatischer und fokussiere auf die zahl, bei der das schlimme nicht eintritt. bei einer todesrate von ca. 2,4% wären das dann stattdessen 3,6%, also überleben über 96%. damit kann ich gut leben, harhar.

omm.

*in einer szene in the good fight sitzen schwarze und weiße anwälte zusammen, einer fragt nach den namen der opfer von polizeigewalt, die weißen erinnern sich nur an den letzten, die schwarzen an alle. die namen sind wichtig.

deshalb, und weil ich es mir leisten kann, mache ich das netz aus, gehe mit dem hund, spiele gitarre und setze mich an den schreibtisch. aber es kostet kraft und ist als rückzug gedacht. der tag ist bis jetzt eher verloren, aber er ist ja erst halb rum.

16. mai 2020

heute früh nochmal kurz mein schrottiges rad gecheckt, weil ein ausflug mit zwei freundinnen anstand. nach zwei stunden ist es zu spät für den großeinkauf, dafür fährt das rad wieder, klappert nur noch vorne, mit einem einzelnen fast angenehmen dengelton, wenn das lose schutzblech gegen die gabel schlägt. ich versuch den großeinkauf in auszügen („nur notwendiges“) zu delegieren und fahre los.

die radtour war anders als erwartet, wider erwarten konnte ich nur den ersten und zweiten gang meiner dreigangnabe benutzen, weil es die ganze zeit bergauf ging. prenzlauer berg eben! die freundinnen haben mich in den botanischen garten pankow gebracht, wo wir nach ihrem acker schauen wollten. eine initiative hat dort kreisbeete angelegt, ca. 20m im durchmesser, in der mitte steht jeweils ein wasserhahn mit automatik, der in abständen kreisförmig wasser sprüht. die kreise sind in tortenstücke zerteilt, die man pachten kann, sie werden nach einem system bepflanzt, teils vom anbieter, teils von den pächtern, es gibt blumen, gemüse, kräuter hintereinander. es sind vielleicht zwei handvoll leute auf den beeten, jäten, pflanzen, mulchen oder ernten, zb rauke und spinat. ich bekomme ein radieschen direkt aus dem boden, knackig und scharf. auf der wiese daneben ruhen vier weitere kreise für ein oder zwei jahre, bis sich der boden erholt hat. sehr cool. ich hatte so etwas schrebergartenmäßiges erwartet, stattdessen ist es ein reines nutzfeld, die pächter kommen zum arbeiten, liegestühle sehe ich keine. aber für beschauliche samstagnachmittage kann man ja den umliegenden park verwenden. schön für familien, weil die kinder so karotten, pastinaken oder kartoffeln schon am grünzeug erkennen lernen und einen einblick in dinge wie pflanzfolgen bekommen. das gemüse genügt wohl für eine familie über den sommer, je nach appetit und pflanzglück, es klappt ja nicht immer alles. eine gewisse disziplin müssen die nutzer mitbringen, auch beim ernten, die freundinnen erzählen von einer zucchini, die einmal den verkehr aufgehalten hat, so monstergroß ist sie geworden. faszinierend.

danach noch kuchen und kaffee im ehemaligen gewächshaus, den wir unter freiem himmel an tischen essen, bisschen fröstelig ist es. auf der heimfahrt geht es rätselhafter weise ebenfalls nur bergauf, ich spüre lauter vergessene nervenenden im allerwertesten. die freundin erzählt von ihrem geplanten sommerurlaub, mit dem rad von hier nach wien und weiter nach athen, ich denke, puh, aber du hast mehr gänge, ich hab nur drei, davon praktisch nur zwei zu verfügung! freue mich sehr, als wir wieder zuhause sind und ich mich vom sattel entfernen kann. den d.-zwilling gefragt, ob er einkaufen war, er sagt nein, der g.-zwilling hätte gehen wollen, der g.-zwilling sagt nein, der d.-zwilling habe gehen wollen. der d.-zwilling hat immerhin eier und äpfel vom markt geholt, allerdings übereinander im rucksack, was nicht gutgegangen ist. muss also noch mal scheuchen. abends couscous und eine weinschorle, ein zwilling geht aus, der andere nicht. gelernt habe ich den unterschied zwischen grade aus der erde kommendem möhrengrün und unkraut, und dass es unter umständen erstmal eine weile nur bergauf gehen wird, wenn ich wie geplant wieder mehr sport machen werde.

9. mai 20

so ein schöner morgen, dachte ich gestern, stand früh auf und macht mich auf den weg in den tag. nach hunderunde klein und frühstück mit dem auto zum großeinkauf, der grade gefühlt alle drei tag nötig ist, weil die jungs das kochen entdeckt haben. dort wie immer mit einer von drei karten zahlen gewollt, aber sie war nicht da, weil sie noch im portemonnaie vom g.-zwilling steckte, den ich letzte woche mit emma zum tierarzt geschickt habe. zweite karte, kassiererin, kartenlesegerät und ich bemerken: die ist abgelaufen. 04/20, wie die zeit vergeht! dritte karte ist die visa, niemand kennt die pin seiner visakarte, weil man die nirgendwo braucht, nur eben an supermarktkassen. den vollen wagen an die kasse gestellt, zum auto, nach hause. g.-zwilling war nicht da, hatte aber sein portemonnaie liegengelassen, ich also mit ec-karte zurück zu meinem einkaufswagen, gezahlt, das eis in die tüte für gefrierzeugs gepackt, nach hause, keinen schlüssel in der tasche gehabt. bei nachbarin geklingelt und ihr das eis in den freezer gelegt, gleich ein paar lebensupdates gemacht, wir haben uns alle solang nicht mehr gesehen. sie hat die nummer vom d.-zwilling (mein handy liegt auf dem schreibtisch vom g., wo ich seine geldbörse durchsucht habe), hat ihn herbestellt, ich hab ihn alles hochtragen lassen und wollte mich auf den weg zum optiker machen, mein 0€ gestell ersetzen lassen, mit termin. mein rad hatte ich am tag zuvor an den g. verliehen gehabt, am fahrrad fällt mir auf, dass mein radschlüssel nicht am schlüsselbund ist, weil er noch am schlüsselbund vom g.-zwilling hängt, was anders besprochen war. ich also schnell zu fuss los, zu spät, brille repariert, halbe stunde zu spät für geplante große hunderunde mit freundin, sie kann nicht später, wir haben uns lang nicht gesehen und setzen uns also wie zwei studies mit unseren laptops auf dem schoß auf eine parkbank, wo wir zweieinhalb stunden in ruhe etwas tun können, eine rechts außen, eine links außen. um uns herum die jugend, also leute unter 40, mit bocciakugeln, drinks in der hand, zu nah beieinander stehend. dann wird die bank zu hart.

keinen haushalt gemacht, jetzt keine lust mehr. abends koche ich ein kochbuchessen (ich habe für volle tage ein sehr dickes buch mit italienischen regionalrezepten, die sind alle aus dem alltag, teilweise mit rätselhaften zutaten in dialekt, immer nur 3 bis 4 zugaben, eine davon salz, „fertig garen“, das wars), schmeckt allen, salsiccia mit knofi, peperoncino und broccoli, dazu kartoffeln.

müde.

abends nochmal stimmung, weil der g.-zwilling sich von einer freundin ein ohrloch stechen lassen will, mit einer stecknadel. es geht wohl in der stadt erst wieder übermorgen, muss also heute sein, und „ich bin 19, mama“. er besitzt jetzt zwei ohrringe, braucht also ein zweites loch, habe ihm zum geburtstag die beiden brillis geschenkt, die ich vor 23 jahren von seinem vater geschenkt bekommen habe, wunderbar, hab es immer bisschen bedauert, dass keins der kinder mir handtaschen, kleider und schmuck klauen will oder abnehmen wird. nach den ersten schreien holt erst er, dann die freundin sich einen grappa, bevor sie nach einem hinweis aus dem internet mit besserem werkzeug (alter pen von mir mit frischen nadeln) einen neuen versuch machen. nach einigen quiekern und schreien gelingt das unterfangen, der stecker sitzt, die beiden gehen noch auf eine runde in die stadt, was wohl irgendwie wieder geht.

bewundere sie fast mehr als ihn.

es war ein g.-zwilling-tag, merke ich, das ist manchmal so, das liegt teilweise an all der ungebundenen energie wegen corona, denke ich, teilweise … teilweise aber auch nicht.

8. mai 2020

ich habe meine deutsche ausgabe der mussolini-texte noch immer im regal, auf zerbrechendem kriegspapier gedruckt, meine mutter hat das kitschige bild (motiv: strasse in pompei) von einem mussolini-sprössling auch noch herumstehen. keiner will die sachen haben, zumindest keiner, an den wir sie weitergeben wollen. aber im müll sind sie auch noch nicht gelandet. ich hebe sie auch deswegen auf, weil es nazis gab in meiner familie, väterlicherseits, unbelehrbare, von der wirklichkeit vergessene menschen. es gab auch andere, kriegsgegner und antifaschisten, deren geschichten leichter erzählt werde. für das gute gibt es keine dokumente, die geschichten werden größer oder kleiner mit den jahren, verändern sich, sind frei wie kleine luftballons, ein zeichen für das gute, als solches nicht so wichtig und nachhaltig wie die dinglichen beweise für die nazis, von denen wir nur wissen, dass sie mehr als nur mitläufer waren, der stiefgroßvater hat in rom für die deutschen gearbeitet, hat seine energie und intelligenz (er war anwalt) für die nazis eingesetzt. ich denke da nur noch am 8. mai dran, aber vor ein paar jahren hat meine schwester entdeckt, dass die CIA in der unmittelbaren nachkriegszeit diesen stiefopa beobachtet hat, die unterlagen wurden im rahmen des freedom of information act freigegeben, man kann sie einsehen und downloaden, es sind pdfs von schlecht fotokopierten dokumenten, tickets, quittungen, berichte von dritten. es steht wenig drin, aber es wird klar, dass der mann sich nach dem krieg ganz unbekümmert und ungestört weiterhin für den aufkommenden neofaschismus eingesetzt hat. wir wollen das mal aufarbeiten und aufschreiben, meine schwester und ich, seit jahren allerdings, vielleicht wird es endlich mal was.

18. april 20

gestern den heutigen 19. geburtstag der zwillis vorbereitet. sie bekommen jeder ein fotobuch mit ihren kinderbildern und meinen aufzeichnungen über die ersten jahre, wer wann was gemacht hat, bestellt bei cewe, weil das direkt aus dem fotoprogramm nicht mehr geht. einband und papierqualität sind schlechter als bei apple, oder vielleicht nur: dünner, ich hätte bei „ganze kindheit“ lieber mehr material in der hand. hatte wegen corona schön viel zeit dafür. d.-zwilling bekommt eine sonnenbrille, seine erste, er hat seit ein paar tagen einen dramatischen undercut, sieht ein bisschen aus wie ein franziskaner, und will jetzt endlich eine. bei fielmann steht jemand, der am eingang die hände desinfiziert und uns masken gibt, die ausprobierten brillen werden auf ein tablett mit küchentuch gelegt und danach erst desinfiziert. wir brauchen 20 minuten, dann hat jeder eine ausgesucht, montag gibt es einen termin für die glasanpassung. sehr professionell und angenehm alles. kind freut sich. g.-zwilling bekommt meine brilli-ohrstecker, die mir sein vater vor ca. 23 jahren mal geschenkt hat, seine neue festplatte habe ich leider nicht zum laufen gebracht, hoffe, das kriege ich noch hin. plus bücher, im buchladen auch spray am eingang, kaufe für jeden ein buch und eins für beide, naomi kleins green new deal. außer mir noch 2 leute im laden, alle kaufen was, vielleicht gibt es weniger schmökerer? ich geh ja sonst gern zum anlesen ohne feste kaufabsicht in buchläden, mache ich nicht zur zeit. sie haben so verkehrshüte im sicherheitsabstand um die kasse und um den rechner im hinteren raum gestellt. lasse alle drei bücher einwickeln, weil mcpaper geschlossen ist und ich kein geschenkpapier mehr habe. den rest verpacke ich zuhause in packpapier, wie schon an weihnachten, jetzt halt aus anderen gründen. dazu gibts je einen fuffi von der großmutter. teig, streusel und apfelfüllung für den kuchen habe ich gestern abend noch vorbereitet und heut früh nur gebacken, sehr lecker geworden, die kerzen darauf sind allerdings immer wieder umgefallen, weil der kuchen noch zu heiß war. was sie sich wünschen fürs neue lebensjahr? „ausziehen, studium anfangen und vögeln“, sagt einer und der andere sagt „genau“. alles gut. heute abend gibts lasagna. (das zitat nehm ich gleich wieder raus)

gestern noch erfahren, dass ich ab mai einen neuen job brauche, macht schon auch unruhig. werde mich auch in allen möglichen sozialen einrichtungen bewerben, bin aber eigentlich als risikopatient nicht einsetzbar, bisschen doof grade. bin eigentlich optimistisch wie immer, irgendwas wird sich finden, finanziell kann es eh nur besser werden, hoffe ich zumindest.

hab mich beim einschlafen abgelenkt mit der erinnerung an die geburt der zwillis, mehr bilder als gefühle, besonders für den zeitraum seitdem habe ich gar kein gefühl, neunzehn jahre, das klingt und ist so lang, trotzdem ist in der gegenwart dieser beiden menschen immer die ganze vergangenheit gleichzeitig präsent, anders als bei meinen eltern oder meiner schwester, weil dies ganze warme gegenwart so fest mit meiner verwachsen ist.

auf einer liege im gang im krankenhaus, es war ein kaiserschnitt mit termin, 38. woche, wegen beckenendlage und diabetes. die pda, nach der ich kurz fast weggekippt bin und keine luft mehr bekam, wie die ärztin sagte, „einen moment bloß“ und es mir nach sekunden wieder gut ging, meine entspanntheit bei der sache, der winzig kleine op-raum in der pulsklinik am westend, der ex neben mir am kopfende, wir beide hinter dem vorhang, wie der ex kurz aufstehen wollte, um hinzuschauen, und die ärzte ihn wieder runtergedrückt haben. das geruckel am bauch, wie schnell alles ging, die jungs mit nur 2 minuten abstand auf die welt gebracht, ich vergesse am anfang immer wieder, welcher von beiden der erstgeborene ist, wie dann einer der ärzte lächelnd mit den beiden auf dem arm um den vorhang herumkam, um sie uns zu zeigen, beide noch in käseschmiere. „ich mach ihnen eine schöne narbe!“, sagte die operierende ärztin, und das hat sie auch getan. meine kaiserschnittchen. grad sitzen sie gackernd auf dem sofa des einen und gucken irgendwas, dauernd anrufe, die sie zusammen beantworten. dankbar.

ein freund der zwillis ist im abitur und weiß bis heute nicht, ob und wann er nächste woche prüfungen hat. eine zumutung, das kümmert natürlich keinen. schulen und berlin.

heute bisschen husten, immer noch frosch im hals, die zwillis fühlen sich auch nicht gesund, wir tippen auf erkältung. erkältung und insekten werden uns alle überleben.

15. april 20

in einer auseinandersetzung mit einem zwilling, der für ein paar tage zu einem freund ziehen will, unbedingt weg von zuhause. seine argumente sind alle nachvollziehbar, meine aufgabe ist es, mein nein zu begründen, aufs interesse der allgemeinheit zu verweisen, infektionsschutz vs bedürfnis des einzelnen. er sagt, er sei gesund, sein freund auch, sie würden eben dort isoliert bleiben. die lage ist ja eh unklar. es ist eine vertrauensfrage, sagt er, ich bringe die wahrscheinlichkeit ins spiel. jetzt warten wir, ob solche besuche erlaubt werden oder nicht, wobei eine erlaubnis ja nichts daran ändert, dass ansteckung leichter durch dritte als im eigenen haushalt erfolgt. ich möchte jedenfalls lieber nicht infiziert werden.

ein naher verwandter schickt den kindern einen tag, nachdem ich sie ihm mit dem auto gebracht habe, statt sie anderthalb stunden mit den öffentlichen fahren zu lassen, einen haufen links, die sie verteilen sollen. darin wissenschaftler mit belegen zu seiner überzeugung, es sei alles u.a. ein who-schwindel, um mehr impfstoffe verkaufen zu können, die sterblichkeit läge bei <1%, man müsse grundimmunisierung durch offene schulen vorantreiben, etc. als würden solche leute nur den elfenbeinturm kennen, als hieße wissenschaftliches denken vor allem, von gegenargumenten ungestört eigene theorien in die welt zu setzen. nichts bringt solche typen in die krankenhäuser von new york oder norditalien, wo die folgen dieser argumentation so offensichtlich sind. nicht nachvollziehbar. na, der mensch hat die kinder im auto zurückgebracht, der rest soll mir wurscht sein.

bleibt schwer zu begreifen, warum intelligente, studierte leute ihre zeit mit all diesen psychoterrorisierten verbringen oder selber welche werden. sie glauben, sie stünden an irgendeinem abgrund, den sie mit aufgerissenen augen und vorgeschobenem kiefer vollumfänglich verkünden (immer lange videos), und sind bloss hoffnungslos im abseits, ihr größter schmerz, nicht gehört zu werden, obwohl sie doch alles besser wissen. macht ratlos. beim versuch, zu verstehen, rutsche ich in was anamneseartiges, schaue in meinem dicken berger unter paranoia und wahn nach und bins zufrieden. zum glück bloss internet. abschütteln, fenster auf.

(und diese leute auf twitter, hoffentlich nur eine kleine blase, die sich um die sozialschwachen kinder sorgen, wenn die schulen länger geschlossen bleiben, und sich aufregen, wenn man in diesem hinweis kein argument für sofortige coronaparties schulöffnung sieht. ja, es ist schwieriger für diese kinder, alles ist schwieriger in solchen familien, das bestreitet doch niemand, trotzdem ist eine längere schließzeit zu befürworten. leute, die ampeln abschaffen wollen, weil ein teil der bevölkerung farbenblind ist. schräge welt. weniger twitter tut not.)

meine tage sind kürzer geworden, weil ich mehr zeit für die einzelnen schritte darin habe. aufstehen, hunderunde, bespassung der jugend (zuwenig, sie wollen nicht), essen, haushalt, jobsuche und bewerbungen und fortbildung durch lesen – alles bekommt jetzt eine eigene kleine blase im tag und kann sie füllen, bis der druck weg ist, der hund müde, nur eine statt drei bewerbungen geschrieben, das erste kapitel nochmal gelesen, weil vergessen. vielleicht prokrastiniere ich sonst gar nicht, sondern brauche schlicht mehr zeit für meinen kram.

alles in allem okay.

13. april 20

zum ersten mal seit der sperre allein zu hause, sofort total k.o. und müde. keine lust auf hunderunde, der hund schläft zu meinen füßen. sie verliert grad ihr winterfell und ihr körper findet dabei irgendwie kein ende, das ganze dichte und leicht filzige unterfell ist schon weg und sie verliert immer noch büschelweise fell. sie sieht ganz zart aus.

die jungs heut von mittags bis abends beim vater, ich hab sie hingebracht, damit sie der bvg fernbleiben können, genieße die leere der wohnung sehr. bin in den letzten wochen auf mich zurückgefallen, ich habe mich sowenig verändert im kern, merke ich erst, wenn das außengerüst abfällt mit verhalten, gewohnheiten, abläufen, beziehungen und all den anderen bedingungen des alltags, die genauso formen wie halten, aktiv wie passiv. bald bin ich wieder bei lyrik. bisschen schade, dass ich kein home-office machen kann, würde gern herausfinden, ob das noch geht oder nicht.

spass am rumwurschteln mit dem rechner vom g.-zwilling, der total hinüber ist, jetzt warte ich auf eine neue ssd-festplatte. habe mein aaps aktualisiert und werde einen weiteren rettungsversuch beim edison versuchen, dessen antenne nicht mehr geht, man kann ihn wohl versuchsweise neu flashen, mit einem pc statt mac, das hat ja bei der smartwatch auch wunder bewirkt. es beruhigt mich, es ist mit den großartigen und idiotensicheren anleitungen im netz genau wie malen nach zahlen, das ist ja auch sehr meditativ.

meine rolle in der familie hat etwas flirrend-unklares bekommen, will die jungs zu sinnvollem anhalten, lesen, bewerben, lernen, loslaufen, was sie ja seit ihren abis selbstverantwortlich tun sollen, sie waren da im selben fluss wie fast alle ihre freunde, reisen, jobs, vielleicht ein praktikum, dann studium oder lehre. jetzt fehlt ihnen die erfahrung der fremdheit, die grand tour, die sie so gebraucht haben, um von zu hause und von der kindheit wegzukommen. die meisten spielen, sagen die jungs, übers netz verbunden, jeden tag ein paar stunden. der eine kumpel, erstsemester irgendwo, den alle insgeheim ein bisschen bewundern, ist allein zu hause, eltern im ferienhaus, ernährt sich von nudeln mit ketchup und spielt den ganzen tag.

g.-zwilling erzählt von eve, ein sandbox-mmo-spiel, wo sich seit 2003 ganze zivilisationen bilden, wo man alles sein kann, was man will, in einer galaxie voller welten. fasziniert mich, auch wenn es in den erklärbärvideos eher um kriegsführung geht als um handel. „so ein titanschiff ist so groß, da kannst du nicht mehr steuern, da jumpst du dann irgendwo hin und bleibst da, bis der kampf vorbei ist“, so der moderator in einem let’s play-beitrag, als wäre die kämpferei, wie so ein reiner geldjob, eine notwendige, aber lästige verpflichtung, um im spiel bleiben zu können. einen geldjob muss sich der spieler in eve auch suchen, um weiterzukommen. erinnert mich an tad williams‘ otherland, in dem die menschen über physische plugins ins netz kommen und dort um ihr leben kämpfen, wenn ich das richtig erinnere. parallele universen. wenn ich da nur forschen oder reisen oder raumschiffe ausprobieren könnte, wäre ich dabei, mich interessiert die umsetzung von raum und weite in die wahrnehmung des spielenden, dabei ist das bestimmt das leichteste beim programmieren.

ich habe alle brettspiele wieder aus der kammer geholt vor zwei wochen oder so, bisher hatten wir ein paar zweierspiele wie boggle (ein paar zweier wäre einen versuch wert, das ginge auch zu dritt, wenn einer doppelt spielt), weil wir das gemeinsam spielen nicht mehr gewöhnt sind, das ganze konzept brettspiel ist uns aus dem fokus gerutscht. lust auf malefiz oder monopoly, werde es inszenieren, also etwas größer machen als die selbstverständlichkeit, die dem spielen gebührt in einer familie. meine höflichen kinder spielen dann meinetwegen mit, es fühlt sich nach schauspielerei an, es dauert eine weile, bis es wieder ums gewinnen geht, dann sind auch sofort die hahnenkämpfe der jungs wieder da, um coolness, pointen, gemeinheiten, dann sind sie wieder teenager und nicht fast keine mehr.

wir reden beim abendessen miteinander, wir wollten abwechselnd kochen, was nicht immer klappt, dann gibts es auch mal stullen. für gemeinsames programm wie spielen, filme, hunderunden verabreden wir uns, wir leben in unserer wohnung, als wäre es die welt, nicht ausgehen heißt im eigenen zimmer bleiben, ausgehen heißt küche oder wohnzimmer.

bisschen heiser, gliederschmerzen und großes schlafbedürfnis, gelegentliches niesen, kein husten, isf bei 130%.

20. märz

gestern vormittag bei obi mit g. nur einzeln reingelassen worden, immer nur ein familienmitglied. sie haben zwischen kasse und kunden trennwände gebaut, große klare plastikscheiben auf einem gerüst aus holzlatten, sehr baumarkt. die kassiererinnen tragen handschuhe, halten abstand, da trägt jemand fürsorge und kümmert sich im rahmen des möglichen um seine mitarbeiterinnen. beim rausgehen standen bestimmt 20 leute in der schlange. später bei DM bat man auf stelltafeln um rücksicht und abstand, drinnen stand ein wachschutzmensch, aber es war nicht so voll. keine mülltüten, kein klopapier.

nachmittags viel stress mit g.’s flug. er hätte nach kapstadt fliegen sollen, um dort bei einer freundin zu wohnen, die ein praktikum macht, und sich dann das land ein paar wochen anzuschauen. viel zeit und selbstverdientes geld sind in die vorbereitung gegangen, es war eine für ihn sehr wichtige reise, ein freischwimmen auf einem anderen kontinent und in einem anderen meer, weit weg von zuhause. er wollte hin, komme was wolle, hat am samstag erfahren, dass ab dieser woche keine deutschen staatsbürger mehr ins land gelassen werden, wollte den flug erst vorverlegen, um noch hinzukommen, muttern im hintergrund zwar unterstützend, aber auf die trägheit des systems vertrauend. am sonntag schien dann auch sein transit mit umstieg über doha nicht mehr möglich, 14 tage sollen deutsche reisende in quarantäne. trotz der so eindeutigen lage war es in 5 tagen nicht möglich, den flug zu stornieren oder umzubuchen, nur am tag vorher, für einen 0-euro gutschein. da war auf der webseite von qatar der weiterflug von doha nach kapstadt schon gecancelt. qatar verwies beim storno/umbuchungsversuch auf den buchungsservice, opodos webseite war überlastet, ans telefon ging stundenlang niemand. stundenlang. wir haben mails geschickt, aber der flug nach doha ist gestern gestartet, ohne g., der rückflug wurde gestern dann auch noch gecancelt. zum glück ist er nicht mitgeflogen, ob sie ihn mitgenommen hätten ohne aussicht auf ein weiterkommen, meinen 18jährigen? am abend kam eine mail von opodo mit der bitte, sich in doha an das deutsche reisebüro zu wenden.

g. ist wohl unfreiwillig zum no show geworden, keine ahnung, ob er von seinen 700€ etwas wiedersehen wird. die extra bei der allianz abgeschlossene reiserücktrittsversicherung verweigert corona-ersatz, alle beteiligten firmen (qatar, opodo, allianz) scheinen ausschließlich aufs eigene wohl bedacht und unfähig, sich der neuen lage anzupassen. lektion gelernt.

in den paar schönen tagen seit dem wochenende hat sich mein bücherstapel ordentlich reduziert, auch der karton mit den italienischen büchern ist leer geworden. jetzt kippt das wetter leider, g.-zwilling hat seinen reisefrust ins aufräumen gesteckt, sein zimmer zweimal komplett umgeräumt und dabei ebenfalls stapelweise büchern aussortiert, die jetzt auch alle auf dem flur stehen und arg nach etwas unfertigem aussehen. heute hat sich d.-zwilling anstecken lassen. die wohnung wird super aussehen nach dem rückzug ins private. die schulbücher könnte ich vielleicht weiterverkaufen, ein paar neue auch, aber den rest können wir, falls tatsächlich eine ausgangsperre kommt, im prinzip wieder einsortieren.

a bis z

in den letzten wochen habe ich meine bücher sortiert, nach alphabet, dabei alle doppelten reihen und stapel mit eingenordet. es war mühsam und hat lange gedauert, das aussortieren ging mit der zeit leichter, ich hab gemerkt, dass ich ein kind meiner zeit bin und eher auf neuere als auf ältere autoren verzichte, wenn ich mich weder an den/die autor/in noch an den inhalt erinnere, hab ich das buch rausgenommen. es sind sehr viele geworden, sie liegen im flur gestapelt, ich darf sie nicht wieder anschauen, bis ich einen abnehmer finde, will aber auch nicht drüberfallen, das wird also eine herausforderung.

beim bücher räumen bilder im kopf, wie die wohnung irgendwann einmal einem entrümpler überantwortet werden wird, für den all das nur gewicht und aufwand ist, oder meinen kindern, die auch nur ein paar autoren davon kennen und wenig behalten werden, vermutlich, wer weiß schon, wie sie sich entwickeln. wir leben in der gegenwart, für die gegenwart. sentimental geworden, den klardenkenden d.-zwilling in ein gespräch ziehen wollen über die vergänglichkeit, aber er hat mich gleich wieder auf den weg gesetzt („entscheide einfach, wieviel platz du brauchst“).

hinter einem zugestellten bild ein din a3 – großes fotobuch entdeckt, dream house von gregory crawson, auf den bildern lauter interieurs mit menschen drin, die menschen sind schauspieler wie tilda swinton oder william h. macy. auf jedem bild scheint gerade etwas passiert zu sein, oder wird gleich passieren, aber wir wissen nicht, was es ist. der blick darauf wirkt voyeurhaft, sie haben spannung, wirken wie filmstills, mitten aus einem geschehen heraus. in keinem der zimmer stehen bücher. gedacht, dass bei mir die bücher die geschichten erzählen, hunderte, andauernd, und keine ist ein geheimnis, keine erlangt bedeutung durch mein unwissen über das, was war oder sein wird. ich muss sie nur öffnen und weiterblättern.

lichter, gedenkfeier

schon wieder in der kirche gewesen, diesmal eingeladen unter schweigepflicht. die kirche sollte voll werden, was einem abend um 18 uhr unter der woche nicht einfach ist, es waren aber wesentlich mehr menschen da als neulich am sonntag, weil die idee ganz schön war, nacht der lichter, zum gedenken an den 9.10.1989, als die ostler in der gethsemanekirche zuflucht gefunden haben vor der draußen prügelnden stasi. die frau neben mir ist dabeigewesen und erzählt, wie sie über den zaun aufs kirchengrundstück geklettert ist, und es ist ein zaun mit sehr spitzen stäben, der ist dem d.-zwilling und mir aufgefallen, als wir zum nebeneingang gelaufen sind, weil der haupteingang blockiert war, „adrenalin war das“ sagt sie, und wie sie nicht wusste, was da grade passierte alles. eine frau im rock mit leopardenmuster und passendem tuch, blodes haar, roter lippenstift, verteilt programme. es ist auf den letzten drücker noch fast voll geworden.

die pfarrerin jasmin el-manhy begrüßt uns, dann liest eine schauspielerin, deren namen ich vergessen habe, aus einem buch über den herbst ’89 in der gethsemanekirche vor. „wachet und betet“ stand damals draußen an der kirche, eine nicht unmittelbar politische, aber doch klar verständliche einladung zur aktivität, zur aufmerksamkeit, zum widerstand, wenn auch im gebet. die kirche war an dem abend voller menschen, dicht gedrängt sitzen und stehen sie im raum, ein foto ist auf einem großen schicken bildschirm zu sehen. el-manhy liest einen psalm, der mir gut gewählt erscheint,

weil in der der ersten reihe angela merkel sitzt (drei reihen vor uns, so nah komm ich der macht nie wieder. sie trägt bordeaux). nach einem lied lesen jugendliche aus tagebüchern vor und verbinden den damaligen widerstand, der tatsächlich zu einer revolution geführt hat, mit dem heutigen, der mindestens zu einer wende führen muss. einer der jungen leuten sagt dabei ein paar zeilen, die der bischof, der natürlich auch da ist, in seiner kurzen rede („ansprache“) wieder aufnimmt, sie mussten protestieren, weil sie es für richtig hielten, diese konzentration auf einen zentralen menschlichen aspekt bei der wende, die gemeinsamkeit, dass es allen zuviel wurde, dieses geheimnisvolle kippen der verzweiflung und unzufriedenheit in die gewissheit, jetzt etwas tun zu müssen. er verbindet es immer wieder mit der heutigen lage, das wort selbstwirksamkeit fällt ein paar mal, meine ich zu erinnern. man spürt seine große betroffenheit über das attentat in Halle, „am jom kippur“, er erwähnt es mehrfach.

immer wieder sehr höfliche ermahnungen, auch in gebetsform, doch bitte irgendwas zum erhalt der schöpfung zu tun, sicher auch an die kanzlerin, aber eher indirekt. es dauerte knapp über eine stunde, am ende zünden alle eine kerze an und singen dabei, in einem sehr leichten und eigentlich in seiner vielstimmigkeit gelungenem kanon „dona nobis pacem“, während die kanzlerin mit mann und herrn platzek und herrn de maiziere und ein paar agenten die kirche wieder verlässt. ich denke, sie wollte aus eigenem antrieb herkommen, sie war ja schließlich dabei, im oktober 1989, in der gethsemanekirche. schade, dass sie nichts davon erzählt hat, notfalls impromptu.

keine öffentliche ankündigung und also auch keine öffentlichkeit. kameras waren aber dabei, mal schauen, vielleicht kam es irgendwo. eigentlich ganz gelungener abend, findet die gemeinde, ich mochte auch das nüchterne, nicht hochkandidelte. paar lieder, paar gebete, paar texte, kein brimborium. sehr protestantisch.