3. november 2020

gestern abend hatte ich gerade meinen hund umgoogelt, weil sie besonders oft pullern muss gerade (sie hat um vier uhr nachts vergeblich um ausgang gebettelt und dann einen see in die küche gesetzt, armes mädchen. ein vorteil der wahl: heute nacht werde ich wach sein und kann sie runterbringen).

(grmbl-absatz:) … als dann über die repubblica der push-hinweis auf das attentat in wien hereinkam, hab auf twitter ein video der repubblica verlinkt, in dem man aus einem fenster auf einen platz guckt, während schüsse fallen. nach dem hinweis von frau novemberregen auf die bitte der wiener polizei, keine videos zu zeigen, den tweet gelöscht, weiter auf der seite der repubblica geblieben, die einen videofeed gezeigt hatte, von einem anbieter, den ich nicht kannte. hab ein paar minuten gebraucht, um seine unterirdischheit zu bemerken, sie haben dort nämlich ein kurzes video laufen lassen, in dem ein mensch erschossen wurde. habe hingesehen, das beim gucken vor mir entschuldigt mit dem bedürfnis, das geschehen zu verstehen, und habe das video, das wie gesagt auf der seite einer eigentlich rechtschaffenen zeitung lief, dann erst nach dem nächsten schnipsel abgeschaltet, nachdem nämlich ein reporter dort erklärt hat, er habe es „leider nicht geschafft“, „näher“ an einen der orte des attentats heranzukommen. dann gewechselt zum orf, der professionell und gut berichtet hat. werde mich bei der repubblica beschweren, weil sie mir das urteil über den boulevardscheiss überlassen hat, die repubblica ist eine der schnellsten zeitungen, die ich kenne, das ist manchmal nützlich, trotzdem darf das journalistische urteilsvermögen dadurch nicht vollkommen außer acht gelassen werden. wenn ich ungefilterte hinweise sehen will, schaue ich auf youtube nach, nicht auf einer redaktionell betreuten seite. einself. (/grmbl)

es sind 5 menschen erschossen worden, einer davon ein täter. wieviele es insgesamt waren, ist noch nicht klar, ob noch welche herumlaufen, ist auch nicht klar. sie wollten vor dem lockdown zuschlagen, heißt es. ein wiener hat aus dem fenster gerufen: „schleich di, du oaschloch“, mehr muss über den mörder nicht gesagt werden eigentlich. 4 unschuldige opfer, 5 katastrophal zu ende gegangene leben. testosteron und wahn und wut.

heute am schreibtisch, im selfcare-modus, blutzucker spinnt nach wie vor schlecht berechenbar. versuch, mit einem gut geplanten tag und nutellatoast der beängstigenden weltlage beizukommen. heute abend zoom-yoga im fast leeren zimmer vom g.-zwilling, darauf freue ich mich, auch wenn sich mein körper grad anfühlt, als sei er 10 jahre zu alt für 2020. danach die wahlfolge von west wing gucken.

um ortszeit 13 uhr öffnen die wahllokale in den usa, ich hoffe so sehr, dass ich mich ab mittwoch nicht mehr dauernd mit den bescheuerten usa herumärgern muss. die mediale dauerpräsenz von trump ist so, als wäre man gezwungen, dauernd die bild zu lesen. es macht einen krank und es beleidigt den verstand, die moral, die sinne, all das, was mich als person ausmacht, jeden tag neu. ich versuche also, dem phänomen mit verstand beizukommen, kann ursachen erkennen und verstehen, aber werde mit all dieser wahrnehmung dauernd volle fresse gegen die wand gefahren, weil ich nichts daran ändern kann, denn gegen gier, skrupellosigkeit und rassismus, und brutalität, und verantwortungslosigkeit in all ihren erscheinungsformen, hilft politik nur dann, wenn ihr system als demokratie handlungsfähig bleibt. darum machen die letzten berichte über den versuch, die auszählung der briefwahlergebnisse zb in pennsylvania illegal zu machen, mich so fertig, obwohl es eine kalte klare linie dorthin gibt. immerhin wurde der versuch vom supreme court verhindert, aber die wahl ist ja noch nicht rum. ach wären wir doch in einem james bond, wo die welt noch gerettet wird! aber bond ist ja auch schon tot.

außer denken und hektischem bloggen kann ich ja nichts tun, das ist zumindest aktiver als das reine fühlen. die usa haben ja seit vietnam immer wieder erbitterte proteste ausgelöst, es hat mich aber nie so fertig gemacht wie die trump-ära, das liegt sicher am klimawandel, der für immer und für alle stattfinden wird, aber auch an der empfundenen machtlosigkeit* angesichts der übermacht des „kapitals“, dieses schietegaltum, das weder auf die rechtslage noch auf die wahrheit rücksicht nehmen muss, wenn ich das mal so formulieren darf als unbedarfte ex-geisteswissenschaftlerin. das ist teil des problems, dass ich es als unbesiegbar und unabänderlich wahrnehme, der frühere kampf gegen, was weiß ich, den nato-beschluss, die atomwaffen, die atomenergie, den krieg im iran, das hat sogar spass gemacht, alles konflikte, wo man zwar auf der seite der verlierer stand, aber im vertrauen auf demokratische entscheidungsfindungen eben immer nur des zeitweiligen verlierers. angesichts des machtmissbrauchs der regierung in den usa fühle ich mich ähnlich hilf- und machtlos wie angesichts der vergangenheit, die ja nu wirklich unabänderlich ist, wo ich zwar verstehen und nachvollziehen will, aber eben nichts mehr tun kann, und das geschehene nur noch betrauern und verarbeiten muss. die wut passte oben nicht mehr in den satz, irgendwo nach machtmissbrauch und vor vergangenheit, die ist immerhin ein zeichen fürs jetzt. ach ja, ein weg in die selbstwirksamkeit wär toll, ums mal pädagogisch zu sagen. handlungsfähig werden.

*dieser gedanke wird ausgeführt in dem buch von donatella di cesare, von der politischen berufung der philosophie oder s.ä., das ich immer noch nur in auszügen gelesen habe. falls t. gewinnt, lese ich es ganz!

vielleicht ein beliebiges anderes land auswählen, mit dem ich mich befassen kann? ich fühle mich co-dependent. neuseeland, island?

omg, schon wieder so lang. sorry. ich plappere. es sind aufregende zeiten.

2. november 20

ein schönes volles wochenende. noch eins mit großeinkauf, der g.-zwilling war wieder zu besuch, marktrunde mit dem d.-zwilling, um äpfel, eier und pasten zu kaufen. markt war voll, ein paar nasenmänner, sonst alle mit maske. lange hunderunde mit freundin, romanze gelesen, weil ich bei all den texten zu den usa, dem klimawandel und allgemein dem untergang des abendlandes etwas nur emotional packendes lesen musste, nichtmal serien gehen zur zeit, ich habe die neue folge discovery nicht zu ende gucken können, bin immer wieder raus zu den nachrichtenportalen. nicht gut, so bin ich gar nicht eigentlich. abends stew gekocht, den tisch im wohnzimmer gedeckt, dem ausgezogenen das familiengefühl mitgeben, als wäre es eine postkarte, es hat aber funktioniert, das system familie trägt. er sagt, es würde sich hier bei jedem besuch etwas anders anfühlen.

sonntags großes frühstück, lange schlange vorm bäcker um 10uhr. mein blutzucker ist die ganze zeit zu hoch, insulinbedarf um ein drittel oder mehr höher, das liegt auch bisschen an einer art fortbildung mit prüfungen, die ich grad absolviere, aber hauptsächlich an der weltlage. glaube ich, ich weiß es ja nicht, merke bloss die symptome, wer weiß, welche hormone da auch noch den üblichen ärger machen, vielleicht sind es ja auch noch die wechseljahre. ich bin aber bei tag 360, nach einem jahr ohne ist frau durch, heißt es, dann beginnen die heiteren jahre der postmenopause, bei der noch ein haufen schöner dinge verloren gehen können, u.a. die haare, die kreativität, die geschicklichkeit, die gelenke und die figur. bekomme jedenfalls fast keine guten postprandialen werte mehr hin, trotz allem, was ich weiß und kann. das erdet und lehrt demut. trotzdem gute laune.

nachmittags ist mir aufgefallen, dass die museen ab heut geschlossen sein werden und bin mit dem g.-zwilling noch mal in die gemäldegalerie. es war sehr voll, eigentlich ein gutes zeichen, dass die berliner nochmal kunst tanken, das mit dem abstand und den masken hat gut funktioniert. in der wandelhalle in der mitte der galerie findet eine eher finstere ausstellung statt, the last judgement scultpure von anthony caro, mit massiven strukturen aus holz, stein und metall, etwas bosch-artig, ohne das spielerische, humorvolle, lebensbejahende von bosch. sehr deprimierend, wirkte wie diese eingänge zur hölle in den indiana jones-filmen, wo pfeile, fallen und allerlei machenschaften den durchgang verhindern sollen.

ich wollte dem g. ein paar bilder zeigen, aber es war leider zu voll für einen ruhigen zugang. wollte mir ein meeruferbild von einem holländer ansehen, als trost für den dieses jahr ausgebliebenen blick aufs meer, habe es aber trotz mehrfachem herumsausen nicht finden können. jetzt hab ich es als bildschirmhintergrund, das funktioniert vielleicht auch. hatte freude an den bildern von üppigen gelagen und feierlichkeiten, überhaupt ansammlungen von menschen, daran dann doch gemerkt, dass mir was gefehlt hat in diesem jahr. das bild oben ist von einem joachim pantenier, „die ruhe auf der flucht nach ägypten“, von ca. 1520, mit seiner idyllischen landschaft hat es fast wehgetan, gibt es doch für die flüchtlinge von heute keinerlei hafen und keine ruhe mehr (es scheint verschiedene schreibweisen zu geben, im netz heißt es patinir, im museum patenier).

lustig die sprichwörter von brueghel, das bild ist mir vorher nie aufgefallen, habe fast keines erkannt. auf meinem kühlschrank hängt eine magnettafel mit einem verschwommenem foto und der aufschrift „leg dich lieber wieder hin“, den brueghel gab es als große postkarte im museumsshop, der wäre als fokussierhilfe und muntermacher vielleicht sinnvoll in den dunkeln morgenstunden, schade, zu spät.

ein unerwartetes geschenk war die ausstellung zum 300. geburtstag von piranesi, dessen römische veduten ich sehr liebe. habe nix davon mitbekommen, weil ich so fern der kunst war, was für ein glück, das noch erwischt zu haben, gemäldegalerie oder kupferstichkabinett zeigen ja alle paar jahre etwas von piranesi, diesmal ging es um wege und umwege seiner kreativität. auch hier wieder eine finstere folter-phantasie, mit einigen anderen kerker-bildern ein zentrales moment der austellung, zumindest haben sie eine ganze wand eingenommen. kann aber auch sein, dass mir das nur so auffällt mit meiner zzt. deutlich erhöhten grundunruhe.

heiliger bimbam! schon wieder soviel text. das liest doch keiner, aber zum kürzen hab ich jetzt natürlich wieder keine zeit. ich sehne mich auch nach meiner poetischen dichte und hoffe, ich finde sie wieder.

das noch: da hat doch 2014 ein begabter junger mensch aus kunstinteressierter familie einen ganzen haufen piranesi-zeichnungen identifizieren können? was für eine schöne geschichte.

der schrank

in folie eingewickelt steht er seit 17 jahren vergessen auf einem dachboden, ein schrank, er gehörte der schwester meiner urgroßmutter, der tante ahne, „von der haben wir ja ein paar möbel geerbt, die vitrine und der sessel gehören auch dazu“, wie meine mutter erzählt, „die konnten wir gut brauchen“. die tante ahne ist kurz nach meiner geburt gestorben, es gibt noch ein foto von ihr mit mir auf dem schoß, in ihrem sessel, der jetzt bei mir steht. ein arm fehlte ihr, den hat sie im bombenschutzkeller in berlin verloren. sie war eine frau mit vielen geschichten und einer soliden haltung zum leben, „kolossal zart, diese musik“ hat sie gesagt, als meine mutter ihr mal eine bach-single geschenkt hatte, und „sie hatte einen so burschikosen berliner humor“. der bruder meiner großmutter ist in berlin geblieben, er war pfarrer und hat mich getauft, vielleicht erinnert sich aus seiner familie noch jemand an sie, aber der kontakt zu diesem zweig ist seit langem eingeschlafen.

mein vater hatte den schrank in seinem arbeitszimmer, hat darin aktenordner und seine tagebücher gelagert, ganz unten, unter einer schicht alter zeitungen, hat er seine playboyhefte aufbewahrt, männer brauchen so etwas, hieß es in der familie, was für eine bürde, wenn die sexualität ewig auf dem niveau der pubertisten hängenbleiben muss, weil keine aufgeklärte entwicklung möglich ist. als mein vater starb, hatte ich keinen platz für den schrank, meiner mutter war er zu finster. ein freund von mir hat angeboten, ihn bei sich zu lagern, und dann kam alles mögliche dazwischen, und ich hab ihn vergessen. eine woche, nachdem das erste kinderzimmer wieder zur verfügung steht, meldet sich der schrank wieder, als wäre er jetzt an der reihe, also die besitzerin der dachetage fragt ganz freundlich an, was denn damit sei. ich könnte ihn eventuell sogar dort stehen lassen, aber will den langmut der inhaberin nicht weiter beanspruchen, schließlich kennen wir uns kaum, und der freund wohnt da auch schon lange nicht mehr.

ich versuche auf die schnelle, einen lieferwagen zu buchen, keine chance, aber er könnte ganz knapp in den kofferraum meines kombis passen, und grade sind beide zwillis in berlin. wir fahren hin, laufen 5 stockwerke hoch, ganz hinten im unausgebauten dachboden steht er, noch vom umzugsunternehmen in blisterfolie verpackt. und ja, er ist groß und breit, und wie sich herausstellt, sehr massiv. die zwillis bekommen den schrank mit müh und not, mit rutschen, kippen, wackeln („mama, warte einfach unten auf uns“) die treppen hinunter auf den hinterhof, von da geht es meter für meter weiter richtung auto. er lässt sich nicht gut greifen, weil er so gut eingepackt ist, rutscht immer wieder fast aus den händen. die laderaumöffnung hinten am auto ist 1m und 5cm breit, der schrank ist auch 1m und 5cm breit, das finde ich kurz lustig, aber er ist zu schwer, um es einfach mal zu probieren. die jungs stellen ihn hinterm auto auf, es sind 700m bis nach hause, keine chance. ich laufe zu einem nahen möbelladen, der inhaber leiht mir freundlicherweise gegen ein pfand so dicke gurte mit einer stahlkralle unten dran, die kann man sich um die schultern legen und unter das möbel haken und es dann mit der kraft des rückens und der schulter hochwuchten. die zwillis laufen in trippelschritten, mit dem hohen wankenden schrank zwischen sich, kommen zuhause an, und schaffen das möbel dann nach einer pause noch die treppen hoch. er wiegt ungefähr soviel wie ein klavier. als ich die gurte zurückbringe, zeige ich dem ladenbesitzer ein foto vom schrank und lerne, dass es wohl mal 2 davon gab, der zweite vermutlich ein sekretär, das biedermeier hat symmetrie geschätzt, also sieht die tür des schranks von außen genauso aus wie die vorderseite vom verloren gegangenen partner, mit drei blinden schlössern, ein blender. mahagoni, sagt der sehr freundliche inhaber noch, geht grad nicht so, aber wenn ich ihn loswerden wolle, er würde ihn auch abholen, da musst ich dann doch lachen. innen ist er leer, leider fehlen auch die regalböden, nur hinten in der ecke liegt irgendwas kleines buntes: es ist eine filmpatrone, mit negativfilm, ein zettel mit einer nummer ist draufgeklebt, der liegt da auch seit mindestens 17 jahren ungefunden und unenwickelt im dunkeln, vielleicht noch eine kleine geschichte. sonst nichts.

ich wollte die leeren räume der zwillis eigentlich eher hell und weiß einrichten, mit wenigen und neutralen möbeln, mal sehen, wieviel raum der schrank beanspruchen wird, ein kleines mahnendes gefühl bekomme ich sofort, waren doch die beerbten alles wohlsituierte bürger, eine familie von der ahe, bankiers, apotheker, politiker, mit geschichten, karrieren und villen. sie haben ihre schränke nicht selber getragen. aber alles ist vergänglich, außer diesen paar möbeln, und das meiste wird vergessen, besonders, wenn ein weltkrieg geschieht, und ich befinde mich eigentlich ganz wohl in meiner gegenwart.

13. oktober 2020

sie sind voller energie, schlagfertig, schnell, sie gehen dauernd aus, wenn wir zusammen essen, reden wir im schnellen wechsel über alle möglichen themen, über alles, außer dem neuen, was auf sie zukommt, da gerät das reden listenartig, hast du das und das schon erledigt, ich zähle auf, worum man sich kümmern muss nach dem umzug, sie wollen es nicht hören, ja mama, alles im kasten. sie freuen sich, wollen los, werfen sich wieder und wieder ins netz, das sie hier hält. jeder schaut im zimmer des anderen nach, ob der irgendwas vom anderen mitnehmen will, pullover und hosen werden durchgesehen, g.-zwilling, der zuerst ausziehen wird, muss alles vorzeigen. d.-zwilling hat schon einen mathe-vorbereitungskurs, jeden vormittag, total doof, sagt er, weil er flüchtigkeitsfehler macht bei den aufgaben, und hat die angst schon vergessen, womöglich gar nicht mitzukommen. sie gehen zusammen tischtennis spielen, fast jeden tag, mit ein paar freunden, ihre tage scheinen nicht planbar, oder die pläne werden nicht an mich weitergegeben, andauernd ergibt sich noch etwas, das ganze jahr muss jetzt nachgeholt werden, so scheint es mir, und ich protestiere wg corona, aber nein, es sind ja die alten freunde, sagen sie, keine clubs oder großparties. einer geht sicher, der andere hofft noch auf eine zusage. ich wollte eigentlich noch irgendeinen rite du passage aus dem hut zaubern, aber das klingt nicht an bei ihnen, non risuona, es geht ja nicht mehr um mich ab jetzt. es ist ihr weg. den ritus brauche ich.

im freundeskreis erste bedenken über eine zukunft mit maske und ohne besuche. die argumente dagegen fallen mir leicht, es sind aber alles rationale und wissenschaftlich fundierte argumente, und die angst vor einsamkeit ist damit nicht zu erreichen. es wird andere wege geben, sich nahe zu sein, sage ich, aber man will doch die enkel umarmen und anfassen, sagt x, wie soll das gehen! und es gäbe ja auch in der wissenschaft verschiedene meinungen, sicher, sage ich, das ist ein kennzeichen von wissenschaft, dass meinungen sich ändern und in frage gestellt werden, aber es muss doch meine entscheidung sein, ob ich mich dem risiko aussetze, sagt x, es ist doch mein leben. ja, aber damit werden doch auch andere gefährdet, sage ich, nein, das sei ein missverständnis, sagt x, x sei ja bereit, ein bis anderthalb jahre keinen zu besuchen, aber für immer sei das unaushaltbar, besonders für alte leute. es ist nicht für immer, sage ich, aber das haben sie gesagt, sagt x, dass sich die situation bis auf weiteres nicht ändern würde, und man dürfe ja nicht mal mehr eine andere meinung äußern, dabei würde x das aus den achtzigern kennen, dass man debattiert, den diskurs sucht, in freundschaft, ohne gleich zum nazi abgestempelt zu werden. niemand stempelt dich zum nazi, sage ich x, so ein quatsch, wir reden doch gerade in freundschaft, und man wird sich einfach anpassen müssen an die neuen gegebenheiten, vielleicht vor besuchen eine woche in quarantäne gehen, oder sich testen lassen, und die masken seien doch nun wirklich kein drama. wenn es tatsächlich so kommt, dass ein neuer lockdown und das verbot von besuchen beschlossen würden, dann würde x auch demonstrieren gehen, sagt x. ich sage, aber dann demonstrierst du mit nazis, diese demos werden gekapert von rechtsaußen, das ist unentschuldbar, mit denen gemeinsame sache zu machen. x sagt nein, ich bin kein nazi, das kannst du doch nicht in einen topf werfen. hm, sage ich. x will dann eben eigene demos organisieren. wir schweigen eine weile, ich beruhige mich schon wieder, sagt x, ich musste das nur mal los werden.

im kern des gesprächs stand die angst vor einsamkeit, vorm verlust der sozialen und familiären kontakte, so mein eindruck, und die erkenntnis, dass eben für jeden andere dinge aushaltbar sind, und dass wir wege suchen sollten, diese ängste anzugehen, anzusprechen, auswege zu suchen.

rot und blau

die politische farbcodierung sitzt tief. die italienische wikipedia führt das international weit verbreitete rot für linke parteien auf die fahnen der pariser kommune zurück, die glaube ich etwas neues waren, international und für alle gültig sein wollten, ohne einschränkung und zuordnung durch wappen, logos, farbkombis oder andere zeichen. anders als bei konservativen parteien, die viel unterschiedlicher sind in der farbwahl, vermute ich bei linken auch wegen der assoziation mit der ersten richtigen, der französischen revolution einen eher internationalistischen und solidarischen ansatz, bei den konservativen eher einen aufs jeweilige land fokussierten, um jetzt mal nicht „nationalistisch“ zu sagen.

ich habe deshalb immer noch ein sekunde widerwillen, wenn mir die farbwahl der parteien in den usa begegnet. die geschichte der amerikanischen farben scheint nicht so klar datierbar, eventuell hat auch dort die revolution die farbzuordnung begründet, 50 jahre vor der französischen revolution, der republikanische norden war dabei zuerst blau, die demokraten waren ab dem ende des 19.jh dann ein paar jahrzehnte die roten, im 20. jh wechselten die zuordnungen dann noch ein paar mal hin und her (alles aus wikipedia). rot war jedenfalls die grundfarbe der ersten fahne der vereinigten staaten nach der unabhängigkeitserklärung, mit 13 bundesstaaten, weil man dafür einfach die rote handelsflagge der briten in streifen schneiden und die dann neu vernähen konnte. erst in den achtzigern des letzten jahrhunderts hat sich rot für die republikaner und blau für die demokraten eingebürgert, festgesetzt wurden sie dann von einem fernsehjournalisten, der sie in schaubildern zur wahl von george bush eingesetzt hat.

vielleicht funktioniert die prägung rot=links weltweit und sitzt tiefer als die jüngeren entwicklungen der letzten 40 jahre, ich gebe die hoffnung also nicht auf, dass es sich wieder in ordnung bringen lässt. mich stört es bei jedem einzelnen schaubild, habe immer eine halbe sekunde latenz beim begreifen des bildes, vielleicht erlebe ich es ja noch, dass die farben wieder richtig sortiert werden, oder sie werden egal, weil eh alles schwarz wird, wobei schwarz ja vor den faschisten schon den anarchisten gehört hat.

3. oktober 2020

1987/88, als ich zurück nach berlin zog, hat mich der osten nicht interessiert. er war weiter weg als der ostblock, er war fremd, und es bestand keine aussicht, diese fremde vertraut zu machen, niemand wollte das, es war das große andere, und das würde so bleiben. die mauer stand für immer, daran muss ich denken in diesem schlimmen 2020, und versuche gar nicht erst, mir vorzustellen, was noch alles passieren könnte.

berlin war für mich westberlin, geburtsstadt, unistadt, aufregende kulturhauptstadt. in italien haben wir nichts gelernt über die ddr, die italienische linke war der ddr eher wohlgesonnen, aber niemand wusste genaues. meine klassenfahrten gingen nicht nach berlin, sondern irgendwo ans mittelmeer, nach neapel, und nach camogli bei genua, mit der besten foccaccia der welt.

ich habe zwei dicke smemorandas aus der zeit, ’87 und ’88, habe noch mal reingelesen, leider keine tagebücher von ’89. eine seite über die erste party bei franziska, in ostberlin, ich war begeistert von ihr, bisschen verzaubert, unsicher, mir fiel auf, dass die gäste schicker angezogen waren, dass ich ein bisschen herumstand, ich hab aufgeschrieben, dass die gastgeberin ziemlich früh ihre party verließ, um zigaretten zu holen, und erst um 23:30 wiederkam, als ich losmusste, was ich bedauert habe. sie war die freundin einer ostberliner cousine meiner besten freundin, habe sie auf einem tagesausflug mit der freundin kennengelernt und war ein bisschen am haken. die besuche waren eher abenteuer, wir hatten früchte und zeitschriften dabei, die manchmal an die grenzbeamten gingen, manchmal nicht. ananas, und ich meine mich an die mischung aus arroganz (ananas!) und unsicherheit (kommunisten stehen da drüber) zu erinnern, wenn wir die herzeigten am übergang. von den 25 mark zwangsumtausch haben wir uns meistens bücher gekauft, shakespeare-gesamtausgabe, hermann kant, anna seghers, weil man in den caffees nie mehr als ein paar mark loswerden konnte. im intershop war ich auch paarmal, fällt mir ein! da ging das geld schneller weg. habe nichts aufgeschrieben über die grenzübergänge, oder über den tränenpalast, die grenzkontrollen etc., die waren eben lästig, und über die schlange an der grenze am brenner oder so hab ich ja auch nie etwas geschrieben.

ein besuch war besonders, weil ich die freunde in einem wochenendhaus in klein-venedig besucht habe, in einem käfer cabrio mit italienischem kennzeichen, in dem ich damals herumfuhr, und die stadt eigentlich nicht verlassen durfte als tagesgast. es gab kuchen, es war ein normaler besuch bei leuten an einem wochenende, es gab einen mann, den ich interessant fand, ich erinnere mich nicht daran, dass die mauer und die ddr thema war, wobei halt, ab wann durfte ich denn mit dem auto in die ddr fahren, war das nicht nach mauerfall? weiß ich nicht mehr, nur, dass ich über die grenze bornholmer strasse eingereist bin, innerstädtisch.

franziska kam jedenfalls irgendwie und irgendwann im sommer ’89 mit der bitte heraus, einen ihrer freunde zu heiraten, der unglücklich war und in den westen wollte, ich hab mich informiert, es gab diese anwälte am kudamm, die mir helfen wollten, ich musste nicht einmal hingehen, anruf genügte, und der apparat fluchthilfe ist angerollt, mit einer gewissen routinierten bürokratie. mir wurden eine reihe von infoblättern zugeschickt für die vorbereitung eines heiratsantrags, zu stellen an die ddr natürlich, nicht nur an den partner, mit empfehlungen, wie viele briefe und besuche nötig waren, um einen anschein von glaubwürdigkeit aufrechtzuerhalten. roger, der mann, war freundlich und eher still, der aufwand war ihm unangenehm, es waren die freunde, die sich sorgen gemacht haben um ihn und ihm helfen wollten. ich glaube, er konnte nicht studieren, was er wollte, aber ich weiß es nicht mehr, ich kannte ihn ja gar nicht. er hat keine perspektive für sich gesehen, kein mögliches glück, es waren die jahre, wo die situation in der ddr noch bleiern und statisch war, obwohl unter der oberfläche alles schon auf ein ende hinzustürzen schien, ich hab das aber nicht bemerkt damals, ich habe es später nachgelesen. die infoblätter tragen einen stempel vom august 1989, damals war der bruch schon im gange, ungarn hat ein paar hundert ddr-bürger ausreisen lassen, aber der weg dahin erforderte noch die bereitschaft, alles hinter sich zu lassen, familie, freundschaften, besitz, für immer. es war noch nicht vorstellbar, einfach auszureisen, im sinn von: legal ausreisen, schon aus angst um die familie, um die dableibenden. rausheiraten war eine alternative dazu, als westlerin hätte ich unterschreiben müssen, dass ich mich auch in der ddr ansiedeln würde, aus liebe, ich so beim lesen: hmm. ich weiß nicht, wie es dann weitergegangen wäre, ein paar monate wurden aber angesetzt, um die behörden zu überzeugen, da hätte ja jeder kommen können. ich habe glaube ich noch ein paar briefe geschrieben und war einmal noch drüben, um roger zu besuchen, aber ich erinnere mich nicht mehr genau dran. vielleicht auch nicht. wir hätten die ehe sofort nach seiner ausreise zum vom staat subventionierten sonderpreis von 1000DM scheiden lassen können, annullieren ging glaub ich nicht, und natürlich hab ich alte romantikerin darüber nachgedacht, ob ich mich eventuell in ihn verlieben könnte, wo er doch seine freundin sowieso nicht hätte mitnehmen können. dann fiel die mauer und ich hab ihn nie wiedergesehen.

ps: wollte die beziehung pci/ddr googeln und bin dabei auf die geschichte von benito corghi gestoßen: der arme mann war lkw-fahrer und sollte eine ladung schweinefleisch aus cottbus nach italien transportieren. ihm fehlte eine erlaubnis an der grenze, die grenzer haben ihm die durchfahrt verweigert, er wollte zu fuss die paar hundert meter vom lkw zur grenze zurücklaufen, um das papier zu besorgen, die beamten haben ihn nicht erkannt, er hat ihre warnrufe nicht verstehen können und wurde daraufhin erschossen, hinterrücks, mit drei schüssen in den rücken. 1976.

edit: auch eine heirat in den westen war eine ausreise und hat familien zerrissen, und wer einmal ausgereist war, durfte meistens nicht einmal für einen besuch zurückkommen. bei der bundeszentrale für politische bildung gibt es einen bericht darüber. noch ’89 haben 50000 menschen eine ausreisegenehmigung bekommen.

30. september 2020

sie wollen ausziehen, aber das ausziehen war kein großes thema bei der wahl der unis, es war etwas gegebenes und selbstverständliches. sie sind dabei 4 jahre jünger als der durchschnitt, in deutschland liegt er bei 23 jahren, viel höher als erwartet, ich dachte, die zentralisierte studienplatzvergabe hätte zu einem jüngeren alter geführt, aber in d studieren halt nur 56% eines jahrgangs. (vgl. italien: im schnitt bis 30 bleiben sie im hotel mama, nur 41% schreiben sich an einer uni ein. in europa sind es 49%)

es ist bei aller planbarkeit natürlich dann doch anders, wenn man drinsteckt. es fühlt sich chaotischer an, die zwillis sind weniger autonom als der große, der in kürzester zeit den bürokratischen kram erledigt hat, die wg gefunden, alles gepackt hatte, ohne ein aufsehen drumherum zu machen. bei den zwillis gerät es anders, sie fordern mehr begleitung und sind lauter und ausführlicher in ihren abschiedsritualen, weil ich ja zur verfügung stehe, vor zwei jahren beim großen habe ich vollzeit gearbeitet und war nicht dabei. ich habe ja eigentlich auch jetzt zu tun, nur eben zuhause. es soll endlich losgehen, sagen die söhne, sie sind es leid, hier festzuhängen, obwohl sie seit dem sommer wieder andauernd auf feste und in parks gehen, erst gestern war ein haarschneidetreffen im bad mit musik und vier freund*innen, anders als im märz hatte ich weder das herz noch die energie, die alle rauszuwerfen.

meine corona-warn-app zeigt seit wochen „1 risiko-begegnung“, vermutlich ein freund vom g.-zwilling, mit dem er kurz vor dessen begegnung mit einem erkrankten zusammen war, und der sich dann angesteckt hat. weiß natürlich nichts genaues. ich trage maske in geschäften, auf der strasse nur, wenn ich vergesse, sie abzunehmen, wasche hände und habe desinfektionsmittel dabei, ich möchte an mir in unter o,5m abstand vorbeikeuchenden nassgeschwitzten joggern immer noch gern ein bein stellen (schon weil die so unhöflich sind!), trage aber beim einkaufen keine handschuhe mehr, weil ich keine nachgekauft habe. auf parties, in konzerten war ich seit märz nicht mehr, habe aber freunde auf hunderunden getroffen und andere zum essen hier gehabt. mein risiko sind also die söhne, die es gar nicht bemerken, wenn sie sich aussetzen, sie tun es ohne böse absicht und nicken meine allwöchentlichen hinweise auf abstand-händewaschen-maske freundlich ab.

für mich gehen mit den auszügen vom großen und den zwillis 16 jahre alleinerziehen zu ende. ich hab mich immer gefreut, wenn die leute das gar nicht bemerkt haben und wollte vermeiden, dass es einen zu großen platz in meiner familie bekommt. hoffe, das hinbekommen zu haben, für mich hat es funktioniert, es ist wie es ist, oder wo du hingehst, da bist du dann. was anstrengend war, ist längst vergessen, es bleibt dankbarkeit und glück. ich wünsche mir, dass sie fröhlich und klug und mit guter musik in die welt losziehen. habe sie gebeten, mir vor ihrem auszug etwas zum alleinerzogenwerden zu sagen, sie meinten: du wirst es vielleicht nicht gern hören, mama, ich bin also bisschen besorgt, werde aber was drüber schreiben, vielleicht als tip für andere alleinerziehende.

heut nacht um 3 wachgeworden und geschafft, nicht in die debatte zu schauen. heute morgen kurz versucht, aber es ist nicht auszuhalten, trump ohne jede impulskontrolle, biden wirkte alt, sie sind aus so verschiedenen welten, da geht gar keine debatte. der amtierende präsident hat wohl irgendwann im gespräch gesagt, insulin sei in den usa billig wie wasser; das ist eine gemeine lüge, weil in den usa diabetiker daran sterben, dass sie die ca. 270$ pro ampulle insulin nicht aufbringen können. in deutschland kostet eine ampulle 40€. eine ampulle mit 10ml inhalt à 100 einheiten reicht bei mir etwas über einen monat, weil ich wenig insulin brauche, viele erwachsene benötigen deutlich mehr, der bedarf ist bei jedem anders, sparen kann man eventuell durch verzicht auf kohlehydrate, nicht am grundbedarf des körpers. zuwenig insulin führt zu hohen blutzuckerwerten, die wiederum schwere nebenwirkungen haben. der wahre gewissenlose bösewicht ist dabei natürlich die firma lilly, die solche preise verlangt, trotzdem macht es fassungslos, wenn die banalsten übereinkünfte der kommunikation vollkommen ignoriert werden. als nächstes wird trump auf grammatik und syntax verzichten, oder nur noch dauernd ichichich brüllen.

wir brauchen übrigens noch alle daumen für den studienplatz eines der zwillis, der aus gründen aufs losverfahren vertrauen muss. er hat einen alternativen platz, aber keinen so guten.

21. september 20

mit mutter und g.-zwilling ins brücke-museum gefahren, um vivian suters bilder anzusehen. Sie komm von weither, lebt seit den 80ern in guatemala in einem haus am berg, sie arbeitet gerne unter freiem himmel, man sieht den bildern den engen kontakt mit der natur an.

die arbeiten passen erstaunlich gut ins brückemuseum mit seinen deckenlichtern und den fenstern ins grüne, sie wirken dort wie eine installation, weil sie einfach in die räume gehängt werden, frei von der decke, man muss drumherum gehen.

bei einem hurrikan 2005 sind schlamm und wasser auf ihre arbeiten geraten, sie hat die veränderungen integriert und mit ihnen gearbeitet. es sind große farbflächen mit verlaufenden konturen, manchmal ist einer ihrer hunde darübergelaufen, bei einem meine ich etwas figurales zu erkennen, aber es ist nicht wichtig, sie wirken durch das, was sie sind, farbe und fläche und bisschen licht.

danach noch ein kaffee im kunsthaus nebenan, im ehemaligen und eher massiv-bombastisch gehaltenen atelier von arno breker. auf dem heimweg noch grosseinkauf mit muttern, sie schreibt ihren einkaufszettel entlang der supermarktregale, inzwischen kenne ich mich dort aus wie in meinem.

nachher gibt sie mir noch eine ihrer alten designer-handtaschen mit, ich könnte eventuell auch „nein, danke“ sagen dazu, aber dann liegen sie in ihrem schrank herum, statt in meinem. sie verwendet sie nicht mehr. ich nehme sie auch als notgroschen wahr, und kann ihren albernen und nur extern gerechtfertigten wert nicht ganz verdrängen, nicht einmal, wenn ich sie trage, dabei gehören sie ja eigentlich mit so einer nachlässigkeit getragen, als wäre es eine no-name-20€-tasche, als wäre es selbstverständlich, sie zu besitzen und zu verwenden. obwohl: wenn ich es nonchalance nenne, gefällt es mir wieder, weil es eine, wenn auch erkaufte, souveranität impliziert. die nonchalance des wohlstands. wobei das theater nur für mich gilt und eigentlich auch nur ein blödsinn ist, alle anderen dürfen und sollen natürlich alle taschen kaufen, auf die sie lust haben.

bin ich jetzt ein ideale kundin?

wenn ich gelegentlich mit den taschen umherlaufe, ist es immer auch kleine gelebte regression in die zeit des sorglosen lebens, fühle ich mich angenehm verkleidet, als wärs ein schutzschild, aber wenn ich dabei freunde treffe, sind mir die taschen unangenehm und ich nehme sie aus der sicht.

sag also keiner was gegen zuviele handtaschen.

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als wir abends nach hause kommen, fehlt ein großer, fast vier stockwerk hoher ahorn vom haus. er wurde gefällt, ohne vorwarnung. ich habe das licht durch die blätter geliebt, den schatten und sichtschutz im sommer, er hatte eine lichte und nicht allzu dichte gestalt. seine äste waren einen tick zu lang, in den letzten jahren ist er mehr in die breite als in die höhe gegangen, und einmal hing ein schlauchboot drin. er hat den sommer eigentlich gut überstanden, so dachte ich, er sah gesund aus, blätter grün, kein astbruch, aber ich hab mich auch nicht wirklich gekümmert. die stadt musste dieses jahr viel fällen, wegen dem trockenen sommer, sein nachbar stand mitten vor dem anderen fenster und hat einmal einen sturm nicht überstanden, der war auch plötzlich weg. die stadt hat nichts nachgepflanzt. jetzt sind beide gefällt und ich werde mir doch noch ein paar ventilatoren anschaffen müssen. das grüne licht im sommer, die blätterschatten, das rauschen! er ist laut baumportal wohl um die 100 jahre alt gewesen, das passt, unser haus wurde anfang des letzten jahrhunderts gebaut, bestimmt wurden die bäume damals mit gepflanzt, die anderen ahorne in der straße sind ähnlich breit und hoch. er hat in seiner jugend die kaiserzeit miterlebt, die weimarer republik, die nazis, und er hat die brennholzfällungen in der nachkriegszeit überstanden, denen fast der ganze tiergarten zum opfer gefallen ist – moment, das klingt unwahrscheinlich, die frierenden berliner haben bestimmt auch die strassenbäume verheizt, bis 1948 dann wieder braunkohle geliefert wurde. (es gibt ein buch über die geschichte der bäume in berlin und new york, absolut angemessenes thema.) vielleicht wurde der ahorn also im wiederaufforstungsfieber ende der vierziger gepflanzt und hat dann bloss 70 jahre gelebt, aber die wohl mindestens, er stand dort also während der kompletten ddr vor den bröckeligen und unsanierten hauswänden, von anfang bis ende, und war jedes jahr wieder prachtvoll grün. seine blätter kamen immer eher spät und haben sich dann innerhalb von ein paar tagen aus den knospen gerollt, man hätte zusehen können, wie das grün dann tiefer wurde im april-mai. hat man aber nicht. er hätte noch mindestens doppelt solang bleiben können, wenn-ich-ihn-gegossen-hätte!! d.-zwilling sagt, so ein baum bräuchte mindestens 200l am tag, das hätte ich eh nicht geschafft, aber wer weiß das schon. vielleicht hätten meine 10l einen unterschied gemacht. omg, das wird mich jetzt ewig verfolgen.

17. september 2020

Le vase où meurt cette verveine 
D'un coup d'éventail fut fêlé; 
Le coup dut l'effleurer à peine: 
Aucun bruit ne l'a révélé. 
(prudhomme, le vase brisé)

hwurw (genau so hat es sich angefühlt) früh um halb sechs mit dem hund rausgemusst, weil g.-zwilling heut nacht nicht mehr mit ihr raus ist, was er hätte tun müssen, weil er beim ausgehen meinen schlüssel mitgenommen hat, nach dem seiner am see liegengeblieben ist und der d.-zwilling erst heute wiederkommt. gestern war es nochmal schön sommerlich warm, ich bin zur friseuse, die als feste freie in einem salon in friedrichshain arbeitet, sie wurde mir empfohlen, weil sie so wenig kostet, ich bin bei ihr geblieben, weil sie gut schneidet und ich mit ihr in diesem italodeutsch plaudern kann, weil sie lange in rom gelebt hat. sie arbeitet 55h pro woche, sagt sie, weil sie mehr als 1000€ netto verdienen will. in rom würde sie kaum noch was bekommen fürs haareschneiden, und sie ist die männer leid, denen die salons meistens gehören.

bisschen bammel vor dem dunklen winter, schon jetzt ist es um 7 nicht mehr ganz hell beim kaffeekochen. wie jedes jahr will ich mir dann schnell noch einen mann suchen, aber es kommt immer was dazwischen, und für diesen schritt in die nähe fehlt mir das klicken, der moment, wo ich auf jemanden total fremden neugierig werden kann, entweder durch text oder durch bild. ich muss das konsequenter angehen und einfach jeden treffen, der halbwegs normal wirkt.

mit g.-zwilling bisschen über den netflixfilm „the social dilemma“ geredet, hauptsächlich wegen einem verschwörungsopfer im näheren umfeld, er meint: aber du bist doch auch süchtig und hängst immer am gerät. stimmt und stimmt nicht, vor allem fühle ich mich nicht inhaltlich manipuliert, sondern vertraue meiner wahrnehmung. aber tun das nicht alle, auch die querdenker? ein unterschied zwischen mir und denen ist glaube ich die zusammensetzung des inputs. bei mir sind es (auf twitter, facebook und instagram) nur private stimmen, also einzelne, identifizierbare menschen mit geschichten, berufen, menschen, die ich mag und in grenzen kennenlerne über die socials, vor allem ist die zusammenstellung meiner timeline selbstgemacht, und kein ergebnis von cookies. das geht auf youtube nicht so gut, da gibt es ja immer einen stream, auch wenn man keinem folgt.

ich spüre trotzdem nach wie vor einen überdruss an all den nachrichten und meinungen auf twitter, das gibt mir eine grundunruhe, die ich früher nicht hatte, obwohl ich da nicht weniger informiert oder interessiert war. die art der kommunikation ist entscheidend, das dauernde tröpfeln von schlechten nachrichten und hinweisen auf die böse welt hinterlässt spuren, unter anderem ein gefühl der hilfslosigkeit und des ausgeliefertseins, und leute, die andauernd probleme erwähnen, gehen mir im wirklichen leben total auf den keks, ich nenne sie übelgrübels, keine ahnung, warum ich sie im netz leichter ertrage, wahrscheinlich, weil es (meistens) beruf für sie ist, nicht freizeit wie für mich. ich lese sie ja freiwillig, und werde nicht als zufälliges opfer von ihnen auf einer party festgequatscht, inclusive schlechtes gewissen. gegen all das übel tue ich nicht mehr als in den zeiten vor dem netz, bisschen spenden, wählen, gelegentlich diskutieren und demonstrieren. also nutze ich meine geräte tagsüber nicht mehr für social media, lese morgens im netz zeitung und …

wieder mehr literatur, könnte eigentlich mal wieder den plan aufnehmen, alle nobelpreisträger zu lesen, die ersten 5 oder so hab ich schon, aber die bücher sind nicht herauszulösen aus ihrer entstehungszeit, die autoren längst vergessen, mit ein paar ausnahmen, gleich der zweite nobelpreis wurde an th. mommsen verliehen, dessen römische geschichte ein wahrhaft zeitloses meisterwerk ist, nützlich fast wie am ersten tag.

heute gebe ich diese facharbeit ab, nachdem ich mir einen schlussatz ausgedacht habe. freu mich drauf, ich leide ein bisschen an der zähen gebundenheit an meine situation als jobsuchende risikopatientin bei corona, da ist jede aktivität gold wert.

(das gedicht oben drüber sollte kleiner, rechtsbündig, ein vers pro zeile gesetzt sein, wie son gedicht halt aussieht. nach halber stunde aufgegeben. wordpress, your blocksystem sucks.) (edit: das rechtsbündige und die zeilenwechsel gehen mit dem blockformat „vers“, allerdings ist dann die auswahl für schriftsatz nicht mehr sichtbar.)

14. september 20

heute früh auf twitter gelesen, dass es vermutlich leben auf der venus gibt oder gegeben hat, seitdem warte ich darauf, dass alle anderen auch so aufgeregt sind wie ich. bin sehr gespannt auf den artikel, in dem die forscher ihre ergebnisse vorstellen und hoffe, dass ich ihn verstehen werde. kann man die zeitschrift nature in berlin irgendwo kaufen? ein exemplar aus papier scheint mir der nachricht angemessen.

tardigrades können in so gut wie jedem umfeld überleben.

daran gemerkt, wie sehr meine vorstellungen von entwicklung und fortschritt an die erdgeschichte gebunden sind. der weg zum leben, zur intelligenz und zur technologie hat auf anderen planeten vielleicht schon vor millionen jahren stattgefunden, von anfang bis ende, es kann hochkomplexe zivilisationen gegeben haben, von denen nichts mehr übrig ist außer ein paar atomen in einem nebel hoch über der toten oberfläche, und wir werden nie erfahren, was es war. solche annahmen sind wahrscheinlich angesichts der milliarden sterne im weltraum, und es ist angesichts der dummheit der menschen gut möglich, dass wir auch so im nichts enden werden. fascinating.

außerdem hat das pentagon eine task force eingerichtet, um ein ufo zu erforschen.

auf netflix eine doku über einen oktopus gesehen, sehr beeindruckend und wunderschön. mitleid mit dem tier gehabt. der filmer hat soviel von der begegnung, nicht zuletzt einen netflix-film, und rettet ihr dann nicht mal das leben? obwohl er es kann? er wollte eben dramatische bilder, denke ich, vom pyjamahai. ihr nicht helfen, aus prinzip, aber dann weinen. männer.

meiner prokrastination zum trotz die arbeit rechtzeitig fertig bekommen, heute nur noch formatierung fertig machen und ein paar schlusssätze schreiben. die p. ist ein rätsel, sie quält mich eigentlich nur bei beruflich notwendigen texten, sonst nicht, als wäre das ein weg, um alten narben und verfehlten weichenstellungen und verlorenen traumata nochmal einen platz in der gegenwart zu verschaffen, mit starker hand und großer kraft. komm, versichert sie mir, du kannst noch einen tag warten mit dem anfangen, das wetter ist doch grad so schön und es gibt soviel anderes zu tun, und ich verfalle in eine innere totenstille zufriedenheit, weil ich nachgegeben habe, in die ich mich fügen kann, nur noch einen tag! damit ich weiß, dass es sie noch gibt, dass sie nicht besiegt sind, dass sie ärger machen können, obwohl ich sie sonst nichts ans licht lasse, der alte kram stört mich sonst gar nicht mehr. als gäbe es einen verqueren deal. (oder, naja, ich weiß es ja auch nicht.)

23. juli 20

otobong nkanga, marting gropius bau

mit einer freundin bei otobong nkanga im martin gropius bau, eine großartige und auf altmodische art gute kunst (taz-kritik), treffend, poetisch, dicht, jeder raum einmalig und funktionierend. habe sowas lang nicht mehr gesehen, sie hat etwas zu sagen über afrika und sie sagt es auf eine weise, die unmittelbar, klar und traurig ist. die alternative war katharina grosse im hamburger bahnhof, sie schien vor allem bunt und beeindruckend, aber auf eine kunstimmanente weise, und nach sovielen monaten ohne kunst wollte ich lieber etwas mit weltbezug anschauen. ich habe einen slot gebucht, trotzdem mussten wir eine weile anstehen, alle mit maske. es war schön, geht hin! ich bin sogar mit meinen kindern noch ein zweites mal drin gewesen. wir haben den namen der künstlerin einfach mal in einem gespräch dauernd erwähnt, seitdem wissen wir ihn.

*

ich weiß nicht genau, wie ich die kinder benennen soll. meine kinder stimmt natürlich weiterhin, aber es sind keine kinder mehr. meine söhne stimmt auch, klingt aber bisschen prätentiös, als hätte ich eine firma und das wären meine nachfolger. wenn ich jetzt noch mit k 1-3 anfange, versteht das keiner. im italienischen ist das viel einfacher, da sagt man: i miei figli, das bezeichnet die verwandtschaftsbeziehung wie onkel, cousine, mutter, und nicht gleichzeitig noch das alter. in der einzahl gibt es figlia, für tochter, und figlio für sohn, die wörter lassen es vielleicht eher zu, dass die kinder noch zuhause wohnen, obwohl es keine kinder mehr sind. es gibt einfach genug wörter im italienischen.

*

danach bin ich mit der freundin durch kreuzberg 61 geradelt, durch den bergmannkiez, auf einen kaffee und eine runde durch die markthalle, die nach der modernisierung etwas ungemütlicher wirkt, anders als die bergmannstrasse, wo zu den alten cafes neue dazugekommen sind und es den alten secondhandladen immer noch gibt, wo ich in den achtzigern meine pyjamas kaufte in diesem einen winter, wo man pyjamajacken trug, mit der zahnbürste in der brusttasche. angenehm mittelaltes publikum, toll und herausfordernd gekleidete frauen unseres alters, wo die schicken frauen hier im kiez eher so einen mimesis-impuls austrahlen, ich gehör dazu, entspreche dem stil, ich seh dich nicht, gab es in kreuzberg blicke und lächeln und kobaltblaue kleider. verblüffend, wie schnell ich bei diesen typologien an vollkommen und unvergleichbar andere lebensläufe glaube, aber vielleicht sind die 20 jahre lebenserfahrung dazwischen genug, um einem das herz zu öffnen. sonst landet man wahrscheinlich eh in zehlendorf. mir ist mein eigener kiez ja etwas zu jung inzwischen, ich habe die moden knapp verpasst, war zu früh, habe im tiefsten neukölln gelebt, jahrzehnte, bevor das hip wurde und war lange wieder weg, als die jugend nachgekommen ist und der kiez eine instanz wurde, statt zufällige umgebung. wedding, sag ich nur, und mitte! jedenfalls immer noch viel spass mit meinem neuen fahrrad.

*

(hatt ich vergessen zu posten. gestern in der stadt eine frau gesehen, die pyjama trug, da ist es mir wieder eingefallen.)

28. august 20

eine meiner nie hinterfragten küchenpsychologischen beobachtungen ist die, nach der menschen mit problemen die meistens entweder im privaten oder im öffentlichen raum haben, selten in beiden. mit raum meine ich das netzwerk an beziehungen, die diesen raum gestalten, also berufliche und zb politische für den öffentlichen raum, beziehungen und freundschaften im privaten raum. so konnte ich meine probleme im beruflichen raum durchwinken, weil ja meine private situation eher in ordnung ist, und nobody is perfect, und überhaupt.

eine alte verfilmung von the stand geschaut, 1994 als tv-miniserie gedreht, erstaunlich gut. ich muss sie schonmal gesehen haben, die schauspieler haben die gesichter, die landschaft sieht so aus, wie ich sie beim lesen des buches im kopf hatte. einzig und allein die special effects sind schlecht gealtert, aber deswegen den film neu drehen? als wäre der einsatz von eigener visueller vorstellung etwas, das filmemacher beim publikum verhindern wollen, ein horror vacui, der jede leerstelle füllen, jede uneindeutigkeit festnageln muss. ist natürlich quatsch, es ist wie bei der erfindung des farbfernsehens, als auf einmal alles sehr, sehr bunt geworden ist, wie ich irgendwann schonmal in anderem zusammenhang sagte. es geht einfach viel mehr und es sieht viel weniger unecht aus, und es scheinen alle spass daran zu haben, frisches geld mit alten geschichten umzusetzen, und vielleicht kann sich die jugend wirklich nicht mehr mit settings aus den neunzigern identifizieren. sie finden bestimmt einen weg, mehr gewalt und mehr sex drin unterzubringen, ich werd es nicht anschauen.

fürchte mich vor dem tag, an dem full immersion-filme möglich werden, mit den nerveneingängen, die tad williams einst beschrieben hat.

oh. ich habe schlechte laune. es geht mir nicht gut, ich komme mit etwas wichtigem nicht weiter, das unterlegt alles andere mit einem gewissen pessimismus, und ich spüre meine müdigkeit, nach den letzten jahren, die notwendige konzentration auf diese aufgabe benötigt zzt immer dichtere scheuklappen, ich erwarte die wahl in den usa mit einer neuen mischung aus fatalismus und fehlendem vertrauen in das gute, das ist neu, bisher haben mich die wahlen dort etwa so interessiert wie die irgendwo anders in der großen weiten welt, eben so mittel und nicht mit persönlicher betroffenheit. die wahlentscheidungen waren ein flow zwischen links und rechts, in so einem gezeitenmuster. seitdem unter trump soviel gelogen und erfunden und übertrieben wird, seitdem die politik in den usa eine reine groteske show geworden ist, habe ich dieses urvertrauen verloren. ich habe angst, dass er gewinnt, weil er für diese ganzen idioten der weg des geringsten widerstands ist, selbst wenn es gegen die 10 gebote verstößt, echt, wenn man den bibelbelt einmal gebrauchen könnte! es scheint ein bildungspolitisches problem, die grundlagen fehlen (wahrheit ist gut, lügen ist schlecht), der weg aus der misere kann generationen dauern, weil man ja mit den grundschülern anfangen muss. dass die reaktionäre, rassistische, ausbeuterische rechte siegen kann, also mehr als die üblichen 10-15% der bevölkerung hinter sich stehen hat, indem sie mit einem ekelpaket wie trump einfach auf lügen, manipulation und gewaltlust setzt, auf die niedersten instinkte – halt, schlechtes bild, begründet werden damit handlungen, die ein ergebnis von pathologischen berdürfnismustern und mangelnder impulskontrolle sind, nicht von instinkten, sogar kleinstkinder empfinden mitgefühl und haben gerechtigkeitssinn, sogar affen haben das, herrje! diese formulierung ist auf dem gleichen level wie der spruch „boys will be boys“ – indem sie auf den tabubruch setzen, wenn man mal den umgang mit gewalt, waffen, armut etc. anschaut, das erschüttert mich doch. gegen solche wahlergebnisse hilft wohl nur bessere bildung, eine schule, in der die wahrheit (und mitgefühl und respekt, man ey, man wird ja zur tv-predigerin, das sind doch alles selbstverständliche basics. mehr pathos für die gute sache!) als wert an sich vermittelt wird, wenn es die familien nicht mehr tun.

damit sollten die demokraten werben, mit grundlagen, nicht nur mit inhalten. ach, der 45. hat meinem leben so einen andauernden stress-tinnitus zugefügt, und das steht ihm nicht zu. ich hab ja schon einen normalen tinnitus.

und der klimawandel. ich könnte nach jedem jammer-posting „und der klimawandel“ schreiben, empfehle aber lieber alles von rahmstorf, der seine webseite auch mal überarbeiten könnte.

andrerseits hatte ich heut zuwenig kaffee, weil die nochteens nur einen liter milch gekauft haben („kein geld“, dabei war abgemacht, dass sie sich ein bisschen am eigenen unterhalt beteiligen, seit der vater nix mehr zahlt), und außerdem halte ich es für eine zumutung, im august schon socken tragen zu müssen. jaja, ich hör schon auf und tue was sinnvolles.

24. august 20

meine mutter wird langsam frail (alle übersetzungsalternativen passen ins englische wort) und hat um meine anwesenheit gebeten, übers wochenende, ich habe eigentlich viel zu tun aufgrund unter anderem prokrastination und hab mir vorgenommen, es trotzdem zu genießen, um ca. 10 gänge herunterzuschalten. zwischendurch wollte ich dann zwar mal kurz das silber putzen oder den keller aufräumen, wurde aber daran gehindert. normalerweise ist meine aktivität in der freizeit wohlausgewogen zwischen nichts tun und etwas tun, solang genug zeit fürs nichtstun bleibt, kann der rest gerne kräftezehrend und komplex sein, für meine mutter ist das ähnlich, bloss dass ihr etwas tun meinem nichtstun zu nahe kommt, etwa ein spaziergang mit tempo 2km/h, ein sehr geruhsames stück torte oder zeitung lesen im sessel. ich war um elf uhr abends völlig fertig und musste ein paar runden solitaire spielen, um schlafen zu können.

wir waren heute auch bei ihrem arzt (der halbe montag ist auch noch mit ins wochenende gerutscht, und ich hätte gerne „noch ein bisschen“ länger bleiben können) sie hatte u.a. paarmal eine tachykardie und hat sich sorgen gemacht. ich hatte mir vorgenommen, eine beschwerde loszuwerden, weil meine mutter ihren corona-test eigenhändig vornehmen musste, aber der arzt war so ein freundlicher, energetischer und blendend aussehender vierziger, der mich sofort gefragt hat, wie ich die mutter einschätze, und danach ständig sinnvolles gesagt hat, da habs ichs gelassen. er kann ja nichts dafür, dass er so gut aussieht.

den wohlstand im anderen stadtteil wahrgenommen, hohe zahl teurer wagen, schlanke, wohlgekleidete menschen mit frisch geschnittenem haar und perfekter maske, ein paar übertakelte damen und herren dabei, aber die mehrheit eben stilvoll und blond und gebräunt. die kleinwagen gehören dem personal, denke ich.

die zwillis haben ihre studienpläne finalisiert, suchen wg-zimmer und üben schonmal mathe. beide werden ausziehen in ein paar wochen, das finde ich wie erwartet jetzt doch etwas plötzlich. sie bleiben im osten, also in relativer nähe, was mich freut. bin gespannt, ob sie west-ost-differenzen wahrnehmen, ob es überhaupt noch welche gibt, aber es wird ihnen wohl eh nicht auffallen, es ist ja alles neu und anders. halle und magdeburg. ihr erstes wird ein zoom-semester, das wird auf jeden fall eine herausforderung.

13. august 20

wunder der zeitwahrnehmung. kommt mir vor wie ein vier wochen-urlaub, dabei highlights wie aus dem katalog: packe grad ein, um vom strand nach hause zu fahren, freund ruft an, ob ich mit boot fahren will, warte auf sie im hafen des kleinen dorfes, es ist eins dieser traditionellen holzboote aus lärchenholz, mit verdeck und außenborder. sq. erzählt, er habe als junger mann mal in einer werkstatt gearbeitet, vor 40 jahren, da habe ihm der besitzer das boot geschenkt, er habe es dann irgendwo aufbewahrt und es jetzt, nach seiner pensionierung, überarbeitet und „mal gestrichen“. es ist wunderschön. wir tuckern rüber zu den inseln, auf der isola dei pescatori warten wir auf den fährmann, der die gäste aus ihren booten abholen muss, so ein fährmann wie die bootsführer in den italienfilmen der 60er, mitte fuffzig, grauharig, trainiert, zahnpastalächeln, ringelshirt, er ist der besitzer oder pächter des restaurants italia. wir klettern rüber auf sein ruderboot und steigen am steg wieder aus. es gibt fisch, neben uns sitzt ein politiker der lega mit seiner familie, einhellig verabscheut, bis er wieder auf seine jacht gebracht wird. bei der abfahrt wollen uns die söhne des fährmanns fahren, aber er winkt ab, no, no, faccio io, die söhne genauso prächtige burschen (oder ist das vierziger? schnieke ragazzis halt) wie der vater.

unter sternen fährt sq. uns über den see zum kloster s. caterina, wo ich dieses jahr zum ersten mal nicht mehr war, seit es eintritt kostet und die coolen nonnen ihren laden dort nicht mehr haben, mit honig, salben und kleinen benediktiner-souvenirs. wir haben immer sehr gern mit ihnen geplaudert, eine kam aus berlin und hat sich über all die jahre die namen der jungs gemerkt und jedes jahr nach ihnen gefragt, wenn sie nicht dabei waren. habe sie gesucht letztes jahr, ohne glück, ich weiß nicht, wo sie sich jetzt niedergelassen haben, ob es ihr geschäft noch gibt. oben auf dem kirchturm ist ein hell erleuchteter raum, das ganze gebäude trägt festbeleuchtung, man sieht aber keine menschenseele mehr, es ist zwischen 22 und 23 uhr. auf der rückfahrt begegnet uns die fähre, riesig und schnell so im dunkeln, sq. macht das licht an, damit man uns sehen kann. eine villa gehört berlusconi, der überall in italien villen hat, eine andere einem etwas flamboyanten menschen, der überall blaugrüne lichter aufgestellt hat, es sieht aus wie eine schlumpfburg, meint sq., nur oben auf dem dach leuchtet ein stones-mund in rot, der anleger ist mit riesigen bunten monroe-drucken dekoriert. ein paar lagerfeuer am strand, erinnerungen! natürlich. als wir wieder in porto ankommen, fährt ein fischer gerade los, sein netz auslegen. falls sq. sich mal langweilen sollte, es wäre ein perfektes touristisches angebot.

noch eine corona-episode: meine 86-jährige mutter wollte sich testen lassen bei einem vertretungsarzt und musste das selber tun. es ginge nicht anders, sie hätten das wartezimmer voller menschen. sie hat das stäbchen in die hand bekommen und hat den abstrich im bad der praxis selber vorgenommen, obwohl sie nicht mehr gut sehen kann und nur eine sonnenbrille dabei hatte. der test war negativ.

den großen mit seiner kleinen reisegesellschaft in luino abgeholt, wohin sie der bus aus lugano gebracht hat. bis lugano ging die bahnverbindung von trier, danach war es stückwerk, die seen-gegend ist nicht gut erschlossen mit öffentlichen verkehrsmitteln, ohne auto ist man von zufällen und fahrplänen mit großen löchern abhängig. am nächsten tag habe ich sie zum flughafen malpensa gebracht, wo es eine große menge an autoverleihfirmen gibt, auch das fehlt in den städtchen direkt am see.

beim essen haben alle von sich erzählt, ich also von berlin und meiner zeit in der stadt. was, es gab eine mauer um berlin? es gab ein west- und ein ostberlin? was war in ostberlin? man konnte nicht einfach rein und raus? blankes staunen, diese mittzwanziger wussten das nicht. ich hab mich viel älter gefühlt, weil sie selbstverständliches aus meiner vergangenheit nicht wissen, nie gelernt haben, wahrscheinlicher: wieder vergessen, weil nicht relevant fürs eigene, sie sind nach dem mauerfall geboren, ihre zeitachse beginnt ja erst dann. wie zentral und selbstverständlich für mich die teilung ost/west war, für meine politische selbstwahrnehmung, für mein heimatgefühl, für meinen umgang mit der welt und der geschichte, wie klar man das damals für alle zeitgenossen vorausgesetzt hat, dass diese teilung irgendwie ihr leben bestimmt hat, einfach dadurch, dass man eben hier oder da geboren wurde. schön, wenn nichts davon bleibt, schade, dass es nichtmal erinnert wird.